Romina Ruhs

„WIR fördern Gesundheit“

Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationsgeschichte in Hessen im Fokus

Schlagwort(e): Gesundheitsförderung, Gesundheitskompetenz, Migration

Das GKV-Projekt „WIR fördern Gesundheit“ ist das größte Präventionsprojekt zwischen einem Bundesland und dem „GKV-Bündnis für Gesundheit“. Seit Mitte 2021 bis Anfang 2025 stärkt das Projekt die Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationsgeschichte1 in herausfordernden Lebenslagen in Hessen. Das „GKV-Bündnis für Gesundheit“ stellt dafür 1,8 Millionen Euro zur Verfügung, das Hessische Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) 615.000 Euro. Zudem werden bereits bestehenden Strukturen im Landesprogramm WIR2 genutzt. Ziele des Projekts sind, die Gesundheitskompetenz wertschätzend und diversitätssensibel zu stärken sowie Zugangsbarrieren zum Gesundheitswesen ausfindig zu machen und abzubauen.

Bestandsaufnahme zur Gesundheitskompetenz

Von Oktober 2022 bis Oktober 2023 wurde die Privatuniversität Witten/Herdecke (unter der Leitung von Prof. Dr. Patrick Brzoska und Dr. Yüce Yılmaz-Aslan, Lehrstuhl für Versorgungsforschung) mit der Bedarfsanalyse zur Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationsgeschichte in Hessen beauftragt3. Im Rahmen der Bedarfsanalyse wurde neben qualitativen Interviews mit Menschen mit Migrationsgeschichte auch eine Online-Befragung ausgewählter Primärversorgerinnen und -versorger in Hessen durchgeführt. Die Zwischenergebnisse der Analyse zeigen, dass vor allem Sprache und eigenständige Kommunikation im Gesundheitswesen große Hürden darstellen. Es fehlt an Aufklärung durch und Vertrauen in das medizinische Personal. Verwendete Fachbegriffe werden oft nicht verstanden. Vorsorgeangebote werden kaum genutzt, da keine oder nur geringe Kenntnisse darüber vorhanden sind.

Die Primärversorgerinnen und -versorger in Hessen sehen auch Probleme bei der sprachlichen Verständigung und Schwierigkeiten bei der Einbindung von Dolmetschenden oder Kulturmittelnden. Einige von ihnen klären über mehrsprachige Informationsmaterialien auf und wirken unterstützend beim Ausfüllen von Formularen. Zur Erleichterung der Kommunikation werden bei Sprachbarrieren mehrheitlich muttersprachliche Mitarbeitende, unterstützende Personen, wie z. B. Familienangehörige, oder auch digitale Tools einbezogen.

Vorläufige Empfehlungen auf Grundlage der Ergebnisse sind, dass neben dem Empowerment der Zielgruppe vor allem strukturelle Barrieren bei der Nutzung präventiver Angebote abgebaut werden müssen. Ein niedrigschwelliger Zugang zu wichtigen Gesundheitsinformationen kann durch aufklärende Beratung des medizinischen Fachpersonals und die Sicherstellung von professionellen Dolmetschenden gewährleistet werden. Auch die Sensibilisierung von Gesundheitsakteurinnen und -akteuren insbesondere zu den Themen der diversitätssensiblen Kommunikation und der Berücksichtigung unterschiedlicher Erwartungen und Bedürfnisse sind dabei zentral. Es zeigt sich, dass eine wertschätzende, diversitätssensible und nachhaltige Stärkung der Gesundheitskompetenz vor allem eine Reflexion im Gesundheitswesen voraussetzt: „Je einfacher ein System, desto effektiver seine Nutzung. Wichtig sind daher ein niedrigschwelliger Zugang, eine verbesserte Navigation sowie transparente Strukturen im Gesundheitswesen.“4

Hessenweite Maßnahmen

Innerhalb des GKV-Projekts „WIR fördern Gesundheit“ werden zahlreiche Präventionsmaßnahmen gemeinsam mit der Zielgruppe umgesetzt. Ziel ist dabei immer, das vorhandene Wissen und die Kompetenzen wertschätzend einzubeziehen und niedrigschwellige Präventionsangebote zu schaffen. Das Projekt reflektiert, dass geringe Gesundheitskompetenzen vor allem Ergebnisse sozialer Ungleichheit sind und als integrationspolitische Aufgabe verstanden werden müssen. Das universale Recht auf Gesundheit und die Vielschichtigkeit, was in welchem Kontext „gesund sein“ und „gesund bleiben“ bedeutet, sind dabei grundlegend. Einige Beispiele sollen die Herangehensweise und die Erfolge des Projekts deutlich machen:

Gesundheitsförderung für Migrantinnen – BENGI e. V. (Projektkoordination Igor Gavric, Nordhessen)

Selbstbestimmt über die eigene Gesundheit zu entscheiden, erfordert Kompetenzen, sich im Gesundheitswesen zurechtzufinden. Das heißt unter anderem, präventive Angebote zu kennen und in Anspruch nehmen zu können. Hier setzt das Projekt „Gesundheitsförderung für Migrantinnen“ in Kooperation mit BENGI e. V. an. Das Projekt hat eine offene Angebotsstruktur und bietet Veranstaltungen für Frauen mit Migrationsgeschichte zu verschiedenen Themen der Gesundheit. Ziel hierbei ist es, Kenntnisse über Zuständigkeiten und Arbeitsweisen der Behörden und Gesundheitseinrichtungen zu erlangen. Die Seminare erstrecken sich über die Themen: „Krankenversicherung“, „Beim Zahnarzt“, „Im Krankenhaus“, „In der Apotheke“ sowie „Öffentlicher Gesundheitsdienst“. Das niedrigschwellige Seminarangebot wird mit und durch medizinisches und psychologisches Fachpersonal (mit eigener Migrationsgeschichte) umgesetzt. So wird eine faktenbasierte Informationsvermittlung gewährleistet und Raum gegeben, über eventuell tabuisierte Themen in den Herkunftsländern sprechen zu können.

Gesundheitscafés (Projektkoordination Piri Savunthararajah, Mittelhessen)

Im Rahmen des Gesundheitscafés werden Impulsvorträge, Anleitungen für zu Hause sowie Anlaufstellen zu verschiedenen Gesundheitsthemen vermittelt. Um die Veranstaltung niedrigschwellig anzubieten, werden Dolmetschende eingesetzt. Dazu wird jede Sitzung von einer Migrantinnen-/Migrantenorganisation selbst gestaltet. Themenwünsche werden von der Koordinationsstelle bearbeitet und dementsprechend Referierende eingeladen. Dies können sowohl ärztliche und andere Fachpersonen als auch Mitglieder von Selbsthilfegruppen sein.

Kräuteraustausch (Projektkoordination Piri Savunthararajah, Mittelhessen)

Mit dem Projekt „Kräuteraustausch“ sollen bestehende Gesundheitskompetenzen von Menschen mit Migrationsgeschichte (re-)aktiviert werden. Das Projekt wird von einer nach dem Konzept der Ganzheitlichkeit arbeitenden schulmedizinischen Fachperson fachlich begleitet. Das Thema Kräuterwissen soll als kulturell-übergreifende Gesundheitskompetenz das Interesse der Zielgruppe wecken. Das Projekt möchte das interkulturelle, von Migrantinnen und Migranten mitgebrachte Gesundheitswissen sichtbar machen und wertschätzen.

Gesundheit und Wohlbefinden – Gesunde Ernährung, Resilienz und Stressmanagement (Projektkoordination Irina Tessnow, Südhessen)

Zwei offene Gesundheitsveranstaltungen zu den Themen „Resilienz“ und „Burn-out und Stress“ werden von MUSE e. V. (Muslimische Seelsorge, Wiesbaden) veranstaltet. Zwei Referierende halten jeweils einen Impulsvortrag zu den thematischen Schwerpunkten, danach folgt der Austausch zwischen ihnen und Teilnehmenden. Ziel ist es, den Teilnehmenden durch Vorträge und interaktiven Austausch mögliche Wege zu einem bewussten und selbstverantwortlichen Umgang mit den jeweiligen Themen aufzuzeigen und ihr „Gesundheits-Empowerment“ zu unterstützen. Referierende sind fachkundige Personen aus den Bereichen Psychologie, Medizin und Gesundheit, häufig selbst mit Migrationsgeschichte. Unterstützt wird MUSE e. V. durch verschiedenen Moscheegemeinden, die Räume zur Verfügung stellen, sowie lokale migrantische Institutionen und Vereine.

Zertifizierte Gesundheitslots*innen (Projektkoordination Raghda Morsy, LAGFA e. V.)

Gesundheitslotsinnen und -lotsen sind Ehrenamtliche, die Menschen mit Migrationsgeschichte in ihrer Gemeinde oder Nachbarschaft über das deutsche Gesundheitssystem und wichtige Gesundheitsthemen informieren und sie an relevante Anlaufstellen weiterleiten. Die Qualifizierung dieser Ehrenamtlichen ist ein wichtiger Schritt, um sicherzustellen, dass alle Menschen in Hessen einen angemessenen Zugang zu Gesundheitsangeboten haben. Hierfür wurde eine umfassende Qualifizierung im Bereich Gesundheit mit zertifiziertem Abschluss in Hessen erstmals über die LAGFA e. V. angeboten. Die Schulung deckt eine Vielzahl von essenziellen Themen ab, darunter die spezifischen Rollen und Aufgaben von Gesundheitslotsinnen und -lotsen, die Grenzen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit, diversitätssensible Kommunikation und Gesprächsführung sowie tiefgehende Einblicke in das deutsche Gesundheitssystem. Ein besonderer Fokus lag auf dem Verständnis von Integration und Gesundheit sowie auf der Sensibilisierung für chronische Erkrankungen, Familienplanung und Schwangerschaft.

Aufbau des Projekts

Die Projektleitung ist beim HMSI in der Abteilung Integration / Landesprogramm WIR ansässig. Durch das Landesprogramm WIR arbeitet das Land Hessen bereits eng mit Kommunen zusammen, um Integrationsmaßnahmen vor Ort zu fördern. Hier werden also bereits bestehende Strukturen genutzt. Die konkrete Umsetzung erfolgt gemeinsam mit der Stadt Kassel, der Universitätsstadt Marburg sowie dem Landkreis Darmstadt-Dieburg. An den Stadtorten sind jeweils Koordinierungsstellen eingerichtet, die dann für den Bereich Nord-, Mittel- und Südhessen zuständig sind. So werden die lokale Gesundheitsexpertise und die Schnittstellen vor Ort genutzt. Auch die Zugänge zu den Lebenswelten sind damit gesichert. Die LAGFA Hessen e. V. (Landesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligen-Agenturen in Hessen) bringt mit einer Mitarbeitendenstelle ihre Erfahrung in der Arbeit mit Ehrenamtlichen ein. Hier werden Gesundheitslotsinnen und -lotsen ausgebildet, die als Wegweiser und Brückenbauer für Menschen mit Migrationsgeschichte fungieren.

Autorin:

Romina Ruhs, Projektleitung WIR fördern Gesundheit, M.A. Soziologie

Kontakt:

Romina.Ruhs(at)hsm.hessen.de

Kontakt zu Projektmitarbeitenden:

Irina Tessnow, I.Tessnow(at)ladadi.de
Koordinierungsstelle Landkreis Darmstadt-Dieburg (für Südhessen)
Piri Savunthararajah, Pirijanga.savunthararajah(at)marburg-stadt.de
Koordinierungsstelle Marburg (für Mittelhessen)
Igor Gavric, Igor.Gavric(at)Kassel.de 
Koordinierungsstelle Stadt Kassel (für Nordhessen)
Raghda Morsy, r.morsy(at)lagfa-hessen.de
Projektkoordination Gesundheitslots*innen LAGFA e. V.       

 

Quellen

1 Das Projekt richtet sich ausschließlich an Menschen im erwerbsfähigen Alter mit Krankenversicherungsschutz.
2 Für mehr Informationen zum Landesprogramm WIR: https://integrationskompass.hessen.de/foerderprogramm/integrationsfoerderprogramm-wir
3 Der Abschlussbericht der Studie: „Die Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund in Hessen. Eine Mixed Methods-Studie aus Perspektive unterschiedlicher Akteure/innen (GeKoMi)“ ist noch nicht veröffentlich und erscheint 2024. Die Untersuchung bezog sich auf die größte zugewanderte Gruppe (türkische Menschen mit Migrationsgeschichte) sowie die größte neu zugewanderte Gruppe (arabisch- und farsi-/darisprachige Menschen mit Migrationsgeschichte)
4https://archiv.gg-digital.de/2021/10/gesundheitskompetenz-im-system/index.html


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