Swaantje Laurent, Tanja Trost, Johanna Boettcher

Wie Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Ausbildung (PIAs) Menschen aus der Ukraine psychologisch unterstützen

Einführung – Das Projekt „steps – strong together psychologically“

Als im Februar 2022 die Ukraine von russischen Truppen angegriffen wird, löst das eine Flut unermesslichen, menschlichen Leids aus; gleichzeitig wird auch eine Welle von Engagement in Deutschland mobilisiert. Wir, zehn Psychotherapeutinnen in Ausbildung der Psychologischen Hochschule Berlin und der Berliner Akademie für Psychologie (PHB und BAP), sind entschlossen, einen Beitrag zu leisten.

Als ausgebildete Psychologinnen und Psychologen mit Vertiefung in Tiefenpsychologie, Verhaltenstherapie oder systemischer Therapie möchten wir unsere Zeit, Kompetenz und Kenntnisse denjenigen zur Verfügung stellen, die ihr Land verlassen mussten und sich in einem neuen Umfeld mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert sehen. Krieg und Flucht können stark traumatisieren oder Belastungssymptome unterschiedlicher Schwere auslösen, unter anderem Schlafmangel, Depressionen, Ängste (z. B. Hoell et al, 2021). Die verstörenden Ereignisse können zu starken Gefühlen von Trauer, Einsamkeit, Unsicherheit, Verzweiflung, aber auch Rache und Hass führen. Psychologische Hilfe kann darin bestehen, die Erfahrungen zu besprechen, zu verarbeiten und bei der Neuorientierung zu helfen.

Aufbau einer Beratungsstelle für Menschen aus der Ukraine

Die ersten Wochen im März, April und Mai nutzen wir, um eine kleine, aber wirksame Ambulanz aufzubauen. Zu Beginn unseres Projekts einigen wir uns darauf, kurzfristig verfügbare und leicht zugängliche psychologische Beratung anzubieten. Fünf Sitzungen zu je 90 Minuten scheinen uns sinnvoll, um Menschen ein Angebot zu machen, die in der Regel nicht psychisch krank sind und auch nicht in jedem Fall eine Psychotherapie benötigen, die aber von Gesprächen mit fachkundigen Psychologinnen und Psychologen profitieren können. Wir beschließen, auch Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern ein Angebot machen zu wollen, und erweitern unser Team um Auszubildende im Bereich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.

Die Psychologische Hochschule sagt ihre Unterstützung zu: Supervision sowie fachliche Begleitung, räumliche und organisatorische Ressourcen. Auch aus den Reihen der Berliner Akademie für Psychotherapie gewinnen wir Fachleute, die Supervision und fachliche Beratung zur Verfügung stellen. Wir nennen uns „steps – strong together psychologically“. Anfangs haben wir mehr Fragen als Antworten – und immer neue Herausforderungen: Wie strukturieren wir uns – wer macht was und womit fangen wir am besten an? Wie finden Menschen aus der Ukraine unser Angebot? Wollen wir aufsuchend arbeiten oder in unseren Räumen Beratung anbieten? Wie geht eigentlich Beratung zu dritt mit Sprachmittlung? Wo finden wir Dolmetschende, die bereit sind, sich mit schweren menschlichen Krisen auseinanderzusetzen? Wohin können wir suizidgefährdete Menschen überweisen? Und wie kann es für diejenigen weitergehen, die im Anschluss an unsere Beratung tatsächlich eine Therapie brauchen?

Zu unseren ersten Schritten gehört der Aufbau einer telefonischen Sprechstunde mit Anmeldung. Den Kontakt zu den Klientinnen und Klienten stellen wir über einen viersprachigen Flyer her, den wir online (https://www.psychologische-hochschule.de/campus/steps-psychologische-beratung-fuer-gefluechtete/) stellen und in verschiedenen Treffpunkten von Menschen aus der Ukraine verteilen. Wir rekrutieren über private Kontakte russisch und ukrainisch sprechende Dolmetschende. Um ein gemeinsames Beratungsverständnis zu entwickeln, treffen wir uns in Workshops, in denen wir Beratung zu dritt, Krisenintervention, den Umgang mit Suizidalität sowie Beratungsmethoden üben und austauschen. Wir organisieren eine wöchentliche Supervision, die von Lehrenden von PHB und BAP übernommen wird. Die PHB stellt uns einen Raum zur Verfügung, den wir exklusiv für unsere Beratungstermine nutzen können. Auch eine Aufwandsentschädigung für die Dolmetschenden wird zugesagt. Zur Dokumentation und Qualitätskontrolle legen wir Akten an, in denen wir unsere Gespräche dokumentieren. Fördergelder werden beantragt und Spendenplattformen bespielt. In vielen Themen sind wir Neulinge, wir lassen uns jedoch nicht entmutigen. Es trägt uns unsere Idee und das positive Feedback, das uns aus vielen Richtungen erreicht: „Wirklich toll, dass ihr das macht!“

Start der psychologischen Beratung

Nach dreimonatiger Aufbauarbeit geht es tatsächlich los! Nachdem in den ersten Wochen ca. zwei bis drei Anmeldungen pro Woche zu verzeichnen waren, steigen die Zahlen der Hilfesuchenden stetig. Unser „Vertriebsteam“ hat ganze Arbeit geleistet: Flyer und QR-Code haben sich verbreitet, steps hat sich herumgesprochen. Es gelingt uns, allen Anfragenden innerhalb von ein bis zwei Wochen Beratungstermine anzubieten.

Da ist zum Beispiel Marya (alle Namen geändert): Sie kommt mit Gedanken an Selbstmord zu uns. Sie ist in den ersten Sitzungen hoffnungslos, einsam und hat den Glauben an das Gute im Menschen verloren. Die Erfahrungen des Krieges haben sie tief erschüttert, sodass sie das Gefühl hat, dass nichts mehr von Bestand sei und alles schlagartig verloren gehen könne. In der Beratung empfindet sie es zunächst als große Erleichterung, auch „die gruseligsten Gedanken“ einfach einmal loszuwerden. Ihr hilft, dass sie schambesetzte Gefühle wie Wut und Hass äußern darf. Im weiteren Verlauf der Beratung kann sie zusammen mit der Therapeutin wieder zu einem differenzierteren Menschenbild finden, indem einerseits Raum für „Grautöne“ geschaffen wird, andererseits das Gute im Menschen auch wieder gesehen werden kann. Das Auftauchen von starken Gefühlen wie Schmerz und Trauer kann sie als „normale“, nicht pathologische Reaktion auf Nachrichten von zu Hause annehmen. Marya braucht auch nach fünf Sitzungen psychologischer Beratung noch Unterstützung. Wir vermitteln eine ambulante Psychotherapie bei uns im Haus.

Schwierige Gefühle wie Trauer, Angst, Schuld und Wut sind in allen Gesprächen ein großes Thema. Es geht darum, diese anzuerkennen, zu akzeptieren und einen neuen Umgang damit zu finden. Bei Ana zum Beispiel, einer jungen Frau aus Kiew, geht es um die Frage, ob es erlaubt sei, sich vom Krieg und auch vom Leid der Angehörigen zu distanzieren. Sie hat dabei das Gefühl, eine schlechte Person zu sein, wenn es ihr gut geht, und sie ihren Bedürfnissen „egoistisch“ nachgeht.

Michael hatte sich, aus einem Drittstaat stammend, in der Ukraine ein Leben aufgebaut und hat nun alles verloren. Er gibt an, dass ihm die Kraft und die Motivation fehlen, sich noch einmal alles von Neuem zu erarbeiten, zu groß sei dafür die Trauer um den Verlust der alten sozialen Kontakte. Am Ende der Beratung kann er zuversichtlicher in die Zukunft blicken. Ihm habe vor allem die Hilfe bei der Strukturierung seines Alltags geholfen.

Herausfordernd ist die Breite der Anliegen, die die Menschen beschäftigen: Erlebte Nötigung in der Unterkunft. Einsamkeit und Isolation. Lebensmüdigkeit und Hoffnungslosigkeit. Vertrauensverlust – in Menschen und die Gesellschaft und vieles mehr. Alle Menschen, die wir sehen, sind ungeheurem Stress ausgesetzt, den das Leben in Unterkünften mit vielen fremden Menschen, fernab der gewohnten Strukturen und mit unverständlicher Sprache und Bürokratie mit sich bringt. Kinder und Jugendliche und deren Mütter kommen beispielsweise mit Schulschwierigkeiten, Pubertätskonflikten und anderen emotionalen Problemen zu uns. Wir arbeiten konsequent ressourcenorientiert und erinnern die Klienten und Klientinnen an die Potenziale und Stärken, die sie bereits in sich tragen.

Im Team der Beratenden haben wir uns besonders auf das Thema der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und mögliche stabilisierende Maßnahmen vorbereitet. Bisher werden posttraumatische Symptome jedoch selten zum Anlass der Beratung. Das mag daran liegen, dass in Berlin viele Menschen untergebracht sind, die geflüchtet sind, bevor sie traumatisierende Kriegserlebnisse machen mussten. Auch treten Symptome der PTBS bei einem substanziellen Teil der Betroffenen erst Monate nach den Ereignissen auf (z. B. Smid et al, 2009). Auffallend ist zudem, dass in manchen Gesprächen das Thema Krieg und Flucht bewusst ausgelassen wurde.

Unter den ersten Menschen, die uns aufsuchen, sind viele Menschen, die auch schon in der Ukraine unter psychischen Problemen litten (z. B. Ängste, Depressionen, Essstörungen). Hier sind wir mit der Abgrenzung von Beratung und Psychotherapie beschäftigt und mit der Herausforderung, diese Menschen in angemessene psychologische und psychiatrische Behandlung zu vermitteln. Wir profitieren von der hauseigenen psychotherapeutischen Ambulanz und der Vernetzung mit russisch- und ukrainisch sprachigen Kolleginnen und Kollegen in Berlin.

Zwischenbilanz: Sechs Monate Teamwork tragen Früchte

Was können wir heute, nach sechs Monaten, für eine Zwischenbilanz ziehen? Die Chance, eine eigene Ambulanz aufzubauen und bekannt zu machen, erweist sich als spannende Herausforderung. Wir haben ein Team an Therapierenden, Sprachmittelnden und Professorinnen und Professoren vereint und eine flexible Struktur geschaffen, innerhalb derer wir unbürokratisch psychologische Beratung anbieten können.

Als Psychotherapeutinnen und -therapeuten in Ausbildung haben wir intensive Lernerfahrungen gemacht und schärfen unser Therapie- und Beratungsverständnis. In den Monaten Juni, Juli und August führen wir rund 100 Beratungsgespräche. Nur wenige der Beratungen finden auf Englisch statt. Bei den meisten unserer Klientinnen und Klienten sind wir auf Sprachmittelnde angewiesen. Diese müssen emotional stark berührende oder belastende Aussagen übersetzen und selbst verarbeiten. Für die Therapierenden sind die Erfahrungen mit dolmetschergestützter Beratung eine zusätzliche Herausforderung. Im Übersetzungsprozess können wichtige Details oder Formulierungen verloren oder missverstanden werden. Eine vertrauensvolle Beziehung zu Dritt aufzubauen ist erschwert. Die Entschleunigung, die durch die Übersetzung stattfindet, wird allerdings mehrheitlich als wohltuend empfunden.

Die Mehrzahl der bei uns anfragenden Menschen nimmt mehr als drei Sitzungen in Anspruch, unsere Unterstützung wird sehr dankbar angenommen. Wir können Leid mindern, Gefühle validieren, Gedanken sortieren und „ein Ohr für Sorgen und Nöte leihen“. Manchmal geben wir Impulse für den noch fremden Alltag und vermitteln hilfreiche Methoden, um den Stress in der neuen Lebenssituation besser zu bewältigen und mit der Dauerbelastung umzugehen, die man als Mensch erfährt, wenn man plötzlich aus seinem Lebensumfeld herausgerissen wird. Und manchmal lösen wir uns bewusst aus unseren therapeutischen Grenzen und geben Alltagshilfe, ganz praktisch: Wir vermitteln den Kontakt zu einem Sportverein oder helfen bei der Vorbereitung einer Bewerbungsunterlage.

Ausblick: Wir machen weiter!

Die angebotenen Beratungen sind zunächst kein Teil der Kassenleistung, da sie keine Psychotherapie darstellen; alle PIAs arbeiten ehrenamtlich. Wir suchen nach Spenden, um eine Aufwandsentschädigung zahlen zu können. Bei Bedarf, also in Fällen mit klinischen Störungsbildern, versuchen wir, die Klientinnen und Klienten an unsere hauseigene Ausbildungsambulanz oder an andere Stellen weiterzuvermitteln: Sprechen sie Englisch oder finden sich ukrainisch- oder russischsprachige Therapeutinnen oder Therapeuten, so kann dies gelingen (und ist auch in Einzelfällen gelungen); wird jedoch ein Sprachmittler oder eine Sprachmittlerin gebraucht, so stellt sich die Frage der Finanzierung, die nach unserem Kenntnisstand noch nicht geklärt ist. Immerhin: Alle geleisteten Arbeitsstunden können im Rahmen der Praktischen Tätigkeit für die Psychotherapieausbildung angerechnet werden.

Die ehrenamtliche Arbeit ist sinnstiftend und zutiefst befriedigend. Psychische Gesundheit ist nicht nur die Voraussetzung für individuelles Wohlbefinden, sondern auch für das dauerhafte Gelingen einer Gesellschaft.

Wir erwarten, dass Menschen aus der Ukraine weiter psychologische Hilfe in Anspruch nehmen werden. Vielleicht verändern sich die Themen. Nach der Anfangsphase kann es mit weiterem Andauern des Krieges zu neuen Schwerpunkten kommen: Traumatische Erlebnisse kommen gegebenenfalls stärker zum Vorschein, Neuorientierung, dauerhafte Trennung von Familie und Freunden etc.

Wir sehen die große Herausforderung, uns um die Weitervermittlung therapiebedürftiger Menschen zu kümmern, die Bezahlung von Dolmetschenden fortzuführen und auch den ehrenamtlich arbeitenden Therapierenden eine angemessene Aufwandsentschädigung zu ermöglichen. Nicht zuletzt können wir uns vorstellen, auch eine Anlaufstelle für Geflüchtete aus anderen Ländern zu werden. Die Vernetzung mit Organisationen, die sich ebenfalls um Menschen mit Fluchterfahrung kümmern, werden wir intensivieren.

Wir freuen uns über Erfahrungsaustausch und Vernetzung mit Interessierten.

 

Quellen:

Hoell, A., Kourmpeli, E., Salize, H. J., Heinz, A., Padberg, F., Habel, U., Bajbouj, M. (2021). Prevalence of depressive symptoms and symptoms of post-traumatic stress disorder among newly arrived refugees and asylum seekers in Germany: systematic review and meta-analysis. BJPsych Open, 7(3), e93. https://doi.org/DOI:10.1192/bjo.2021.54 

Smid, G. E., Mooren, T. T. M., van der Mast, R. C., Gersons, B. P. R., & Kleber, R. J. (2009). Delayed posttraumatic stress disorder: systematic review, meta-analysis, and meta-regression analysis of prospective studies. The Journal of Clinical Psychiatry, 70(11), 1572–1582. https://doi.org/10.4088/JCP.08r04484

 

Autorinnen:

M.Sc. Swaantje Laurent, Psychologische Psychotherapeutin i. A. und Dipl. Psych. Tanja Trost, Psychologische Psychotherapeutin i. A., sind Projektleiterinnen von steps und Prof. Dr. Johanna Boettcher, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Psychologische Hochschule Berlin, ist die Fachliche Leitung von steps.

Kontakt zu den Autorinnen:



Kontakt zu steps:
https://www.psychologische-hochschule.de/campus/steps-psychologische-beratung-fuer-gefluechtete/
Telefon: 0159-01 477697; E-Mail:


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