Oliver Razum, Verena Penning

Wie entsteht gesundheitliche Ungleichheit bei Geflüchteten, wie vergrößert sie sich?

Schlagwort(e): Coronavirus, Diskriminierung, Gesundheitsversorgung, Teilhabe, Unterkünfte

Menschen, die migrieren, sind oft überdurchschnittlich mutig und gesund. Sie behalten daher zumindest für einige Jahre einen gesundheitlichen Vorteil gegenüber der Bevölkerung des Ziellands der Migration, selbst wenn sie sozial und ökonomisch benachteiligt sind. Dieses (scheinbare) Paradox wird als „Healthy Migrant“-Effekt bezeichnet. Dagegen sind Menschen, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung, Krieg, unwürdigen oder schlicht unerträglichen Lebensbedingungen suchen, häufig gesundheitlich vorbelastet. Das bedeutet, dass sie gesundheitlich möglicherweise schlechter gestellt sind als vergleichbare Bevölkerungsgruppen ohne Fluchthintergrund. Mit anderen Worten: Bereits der Fluchthintergrund als solcher ist eine soziale Determinante für Gesundheit. Und selbstverständlich unterliegen Geflüchtete auch den „klassischen“ sozialen Determinanten wie Bildung und Einkommen. Das gilt nicht nur im Vergleich zur nicht geflüchteten Bevölkerung – auch innerhalb der Gruppe der Geflüchteten bestehen in dieser Hinsicht teilweise sehr große Unterschiede, die sich in unterschiedlichen Gesundheitschancen niederschlagen können.

Gesundheitliche Risiken Geflüchteter
Neben den gesundheitlichen Risiken vor und während der Flucht sind Geflüchtete auch in Deutschland besonderen Bedingungen ausgesetzt, denen „reguläre“ Migrant*innen und die nicht migrierte Bevölkerung nicht unterliegen und die daher einen weiteren Beitrag zur Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit leisten können. Sie betreffen in erster Linie den Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und die Unterbringung.

Asylsuchenden steht laut Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in den ersten 18 Monaten (bis 2019: 15 Monate) ihres Aufenthalts lediglich eine eingeschränkte gesundheitliche Versorgung zu. Sie umfasst Akut- und Schmerzbehandlungen, Schwangerenversorgung sowie die gängigen Impfungen (in Bremen und Hamburg gilt diese Einschränkung nicht). Zudem müssen Asylsuchende in vielen Kommunen vor einem Arztbesuch einen Behandlungsschein bei der Sozialbehörde beantragen. Teilweise erhalten sie ihn erst nach einer Prüfung des Behandlungsbedarfs durch nicht medizinisches Personal. Der faktische Zugang zu gesundheitlichen Leistungen hängt also stark von der Kommune ab, der ein*e Geflüchtete*r zugewiesen wurde.

Viele Asylsuchende werden in den ersten Monaten ihres Aufenthalts in zentralen Aufnahmeeinrichtungen wie Ankunfts- oder AnkER-Zentren untergebracht. In diesen Sammelunterkünften wohnen sie teilweise beengt ohne Rückzugsräume und sind aufgrund von Stress oder Gewalt einem erhöhten Risiko insbesondere für psychische Krankheiten ausgesetzt. Damit sich gesundheitliche Ungleichheiten nicht vergrößern, sind die Aufenthalte in Sammelunterkünften möglichst kurz zu halten, die Sicherheit aller Bewohner*innen (insbesondere von Minderheiten) ist zu gewährleisten und Möglichkeiten der Mitbestimmung bei der Alltagsgestaltung sind auszubauen.

Gesundheitsbezogene Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie
Durch die Covid-19-Pandemie ergeben sich besondere gesundheitsbezogene Herausforderungen und Konstellationen, die gesundheitliche Ungleichheiten weiter vergrößern können. Zum einen betrifft Covid-19 generell Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status besonders stark. Zum anderen sind aber auch hier Asylsuchende in Sammelunterkünften noch einmal stärker betroffen. Die räumlich beengten Bedingungen in solchen Unterkünften erschweren es, Social Distancing umzusetzen und Hygienemaßnahmen einzuhalten. Menschen aus dem östlichen Mittelmeerraum weisen zudem überdurchschnittlich häufig Risikofaktoren wie Übergewicht und Diabetes Typ II auf, die zu schweren Verläufen von Covid-19 führen können. Schließlich weisen Menschen mit geringer formaler Bildung oft eine niedrigere Health Literacy (Gesundheitskompetenz) auf. Für Geflüchtete mit niedrigerem Bildungsniveau bzw. mit fehlenden Sprachkenntnissen sind manche präventiven Maßnahmen wie z. B. Schutzmaßnahmen vor Ansteckung auch gegenüber scheinbar Gesunden schwerer nachvollziehbar bzw. nicht verständlich. Die zukünftige Pandemieplanung muss daher Geflüchtete (sowie auch alle anderen Migrant*innen) explizit einbeziehen. Positiv festzuhalten ist, dass Institutionen wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sehr schnell Informationsmaterialien zu Covid-19 und Präventionsmaßnahmen in vielen verschiedenen Sprachen zur Verfügung gestellt haben.

Best-Practice-Beispiele
Im Best-Practice-Bereich gibt es bereits Beispiele, wie sich die Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit bei Geflüchteten verringern lässt. In einigen Bundesländern wurde beispielsweise eine elektronische Gesundheitskarte für Geflüchtete implementiert bzw. wird zurzeit eingeführt. Diese Gesundheitskarte baut Bürokratiehürden ab, da Geflüchtete direkt eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen können, ohne vorab einen Behandlungsschein beantragen zu müssen. Darüber hinaus seien die Aktivitäten und Projekte der „Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V.“ (BAfF) genannt. Die BAfF leistet einen wichtigen Beitrag zur psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung für Geflüchtete, die über die Regelversorgung unzureichenden Zugang zu Behandlungsangeboten finden. Im Rahmen der Kontrolle der Covid-19-Pandemie hat die Stadt Bremen explizit auch die Situation in Flüchtlingsunterkünften in ihrer Coronaschutzverordnung (6. Coronaverordnung vom 2. Juni 2020) thematisiert. Es wird betont, dass Abstandsregelungen dort ebenso umsetzbar sein müssen wie in anderen öffentlichen Bereichen, sodass sich auch Geflüchtete in Sammelunterkünften vor einer Covid-19-Erkrankung schützen können.

Der Beitrag der Wissenschaft
Auch die Wissenschaft kann Beiträge zur Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit bei Geflüchteten leisten. Ein konkretes Beispiel ist die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) 2019-22 geförderte Forschungsgruppe „Fluchtmigration nach Deutschland: ein Vergrößerungsglas für umfassendere Herausforderungen im Bereich Public Health”. Die beteiligten Forscher*innen sehen die gesundheitliche Versorgung Geflüchteter und die sich daraus ergebenden Herausforderungen aber keineswegs als Ausnahmeerscheinung. Das wäre eine Engführung – zum einen, weil eine solche Sichtweise negative Auswirkung auf die Gesundheit Geflüchteter haben kann, indem sie durch Prozesse des ‚Othering‘ (der „Veranderung“) zu einer weiteren Marginalisierung der Geflüchteten beiträgt. Zum anderen folgt aus einer solchen Engführung eine verpasste Gelegenheit, die Gesundheit der Gesamtbevölkerung zu verbessern. Angesichts der gesellschaftlichen Vielfalt in Deutschland können die Herausforderungen der gesundheitlichen Versorgung Geflüchteter als eine Steigerung und Kumulierung von Faktoren angesehen werden, die auch die Gesundheit anderer Untergruppen und letztlich – wenn auch in unterschiedlich starkem Maße – aller Menschen in Deutschland betreffen. Die Forschungsgruppe PH-LENS untersucht zwei solcher Faktoren sowie deren Interaktionen aus einer betont interdisziplinären Perspektive: zum einen kleinräumige Einflüsse auf Gesundheit, beispielsweise den Einfluss der Unterkünfte; zum anderen spezifische Herausforderungen an das Gesundheitssystem (die mithilfe des Konzepts der Resilienz des Gesundheitssystems untersucht werden). ‚Othering‘ als Analyseperspektive dient als theoretische Klammer zwischen beiden Faktoren. Auf Basis unserer Untersuchungen zu den zugrunde liegenden Mechanismen werden Konzepte sowie Public-Health-Strategien zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten entwickelt – für Geflüchtete, aber auch für die zunehmend heterogene Bevölkerung Deutschlands. Am Projekt PH-LENS beteiligt sind Forscher*innen aus den Gesundheitswissenschaften, der Medizin, Epidemiologie, Soziologie, Politologie und Statistik aus Bielefeld, Berlin, Dresden, Heidelberg und München.

Prof. Oliver Razum ist Sprecher der Forschungsgruppe PH-LENS (Vertreter Prof. Kayvan Bozorgmehr, beide Universität Bielefeld). Verena Penning forscht in einem Teilprojekt zur Unterbringung Geflüchteter.

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