Für geflüchtete Frauen in der Schweiz ist der Zugang zu Verhütungsmitteln stark durch ihre aufenthaltsrechtliche Situation geprägt. Barrieren bestehen sowohl bezüglich der Finanzierung als auch des Zugangs zu fachlicher Beratung. Betroffene Frauen weisen zusätzlich auf die erschwerten Umstände einer Mutterschaft in den kollektiven Unterbringungsstrukturen hin. Der Ansatz der Reproduktiven Gerechtigkeit im Forschungsprojekt „REFPER“ trägt diesem erweiterten Blickwinkel Rechnung.
Beim Zugang zu Verhütungsmitteln bestehen für geflüchtete Frauen in der Schweiz verschiedene strukturelle Barrieren (Cignacco et al., 2017). Die Kosten für Verhütung sind in der Schweiz nicht von der obligatorischen Grundversicherung der Krankenkasse gedeckt. In der Sozialhilfe wiederum müssen Verhütungsmittel als „nicht kassenpflichtige Medikamente“ grundsätzlich selbst finanziert werden. Diese behördliche Praxis wirkt sich direkt auf die Bevölkerungsgruppe der geflüchteten Frauen aus: Da sie in der Schweiz aufgrund ihrer Fluchtbiografie in eine prekarisierte Situation geraten, sind sie von der Sozialhilfe abhängig und oft auf die Finanzierung von Verhütungsmitteln angewiesen. Gleichzeitig haben die Sozialämter im individuellen Fall einen Handlungsspielraum bezüglich der Finanzierung, bei einigen Beratungsstellen Sexuelle Gesundheit bestehen Fonds zwecks Übernahme der Kosten. Daraus entsteht faktisch eine Ungleichbehandlung, da keine einheitliche Praxis unter den Kantonen, Gemeinden und Ämtern besteht (Sieber, 2017). Auch der Zugang zu Informationen über die verschiedenen Verhütungsmittel und zu entsprechender fachlicher Beratung gestaltet sich für geflüchtete Frauen sehr unterschiedlich (Amacker et al., 2019).
Das Forschungsprojekt „REFPER“ der Berner Fachhochschule (BFH) erhebt die Perspektive von geflüchteten Frauen in der Schweiz auf ihre reproduktive Gesundheit. Ausgehend von der Frage eines effektiven Zugangs zu selbstbestimmter Verhütung rahmen wir die Forschung in das Konzept der reproduktiven Gerechtigkeit. Dieser Ansatz verbindet reproduktive Gesundheit mit sozialer Gerechtigkeit und fächert sich in vier Felder auf: das Recht, die persönliche körperliche Autonomie zu bewahren, um 1) keine Kinder zu haben, wie auch das Recht, 2) Kinder zu haben, das Recht, 3) die eigenen Kinder in einer sicheren und gesunden Umgebung aufzuziehen sowie 4) das Recht, die eigene Sexualität selbstbestimmt zu leben (Ross & Kitchen Politics, 2021). Die Auswertung der semistrukturierten Interviews und Gruppendiskussionen zeigt, dass geflüchtete Frauen in kollektiven Unterkünften oft in allen vier Rechten Einschränkungen erfahren.
Erschwerte Bedingungen in kollektiven Unterbringungen
Auf der Flucht brachten viele der interviewten Frauen das zukünftige Aufnahmeland mit Stabilität und Sicherheit in Verbindung. Es schien in diesem Sinne auch die (wiedererlangte) Voraussetzung für eine Familiengründung oder -erweiterung zu bieten. In der Schweiz angekommen, finden sich die Frauen im Asylverfahren jedoch oft unerwartet weiterhin in einer unsicheren Lebenssituation. Aufgrund der Platzierung in kollektiven Unterbringungen sind sie zahlreichen (frauenspezifischen) Belastungen ausgesetzt (Vgl. hierzu auch der Im-Fokus-Beitrag von Isabelle Ihring & Charlotte Njikoufon: Zur Situation geflüchteter Frauen und Kinder in deutschen Flüchtlingsunterkünften infodienst.bzga.de/migration-flucht-und-gesundheit/im-fokus-gefluechtete/v/zur-situation-gefluechteter-frauen-und-kinder-in-deutschen-fluechtlingsunterkuenften-1/). Die gravierenden Defizite der Lebensbedingungen wie behördliche Abhängigkeiten, hohe Gewaltprävalenz, fehlende Privatsphäre, prekäre Infrastruktur, soziale Marginalisierung sowie beschränkter Zugang zu Gesundheitsversorgung stellen insbesondere auch für Schwangere enorme Herausforderungen dar (Gewalt et al., 2019). Aufgrund dieses prekarisierten Lebens in solchen Strukturen richten einige ihre reproduktiven Strategien vor Ort neu aus, um eine Schwangerschaft nach Möglichkeit zu verhindern: „Mein Ehemann und ich, wir entschieden, später Kinder zu haben. Weil, auch im Camp war es nicht gut für Frauen, schwanger zu sein. Es ist sehr schwierig für eine Frau, im Camp schwanger zu sein.“ Einige Studienteilnehmerinnen erklären, dass ein Leben in der Kollektivunterkunft für Kinder ebenfalls kein sicheres und gesundes Umfeld darstelle. Sie führen aus, dass dies ein weiterer zentraler Grund sei, nicht schwanger werden zu wollen: „Und die Frau war eine Arme, schon grundsätzlich. Und sie war mit einem kleinen Baby im Camp. Und sie wollte kochen für ihre beiden anderen Kinder, sie hatte ihre Tochter immer jemandem gegeben. Und ich habe mir vorgestellt, mich selbst, in ihrer Situation. Und es wäre für mich sehr schwierig gewesen. Ich hatte nicht an Schwangerschaft gedacht, weil ich diese Dinge sah. Nicht, solange die Umgebung nicht passender ist für Kinder.“
Der unsichere Verfahrensausgang sowie der undefinierte Zeithorizont des Verfahrens drängen die geflüchteten Frauen in eine unbestimmte Phase der Instabilität, welche die Familienplanung maßgeblich erschwert. Vor diesem Hintergrund ist es elementar, dass sie sich gleich bei Ankunft im Aufnahmeland mit Fragen zu selbstbestimmter Verhütung auseinandersetzen können und es gilt, die obgenannten strukturellen Barrieren zu beseitigen. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, nur die medizinische Versorgung und die Beratung bezüglich Verhütung zu gewährleisten. Viel eher gilt es auch, den institutionellen Kontext zu berücksichtigen, der die reproduktive Selbstbestimmung von geflüchteten Frauen einschränkt. Mit dem Ansatz der reproduktiven Gerechtigkeit lässt sich dieser erweiterte Blick konzeptuell rahmen: Es steht nicht nur das reproduktive Recht im Zentrum, Eltern zu werden oder nicht, sondern ebenso das Recht, Kinder unter guten Lebensbedingungen aufzuziehen. In kollektiven Unterkünften gestaltet sich dies aus Sicht der interviewten Frauen als schwierig.
Absprechen von Sexualität
Der Ansatz der Reproduktiven Gerechtigkeit geht in diesem Sinne auch der Frage nach, wer überhaupt gesellschaftlich legitimiert ist, Mutter zu sein, und wie Frauen aufgrund von strukturellen Ungleichheiten in Lebenssituationen gestoßen werden, die ihre Mutterschaft erschweren. Laut Loretta Ross, einer Begründerin des Ansatzes, ist die Frage, wer eine „legitime Mutter“ sein kann, eng mit der Frage verbunden, wessen Sexualität als legitim angesehen wird (Ross & Solinger, 2017). In diesem Spannungsfeld finden sich auch geflüchtete Frauen wieder, wie folgendes Zitat veranschaulicht: „Wenn du siehst, wie die Struktur und alles ist: Das heißt: kein Privatleben. Ich war mit meinem damaligen Ehemann; ich musste mit 15 Personen im gleichen Zimmer schlafen. Das heißt, unsere Bedürfnisse, Sex und solche Sachen, Privatleben: Das heißt, das ist verboten, irgendwie! Niemand will dich verstehen, wenn du das hast, oder? Weil du nicht schließen kannst deine Türe und einfach zehn Minuten mit deinem Mann zu sein. Das heißt, wenn du denkst, hier ist Sex nicht erlaubt, das heißt, schwanger sein auch nicht erlaubt!“ Manche geflüchteten Frauen erleben neben der räumlichen Verhinderung auch eine diskursive Delegitimierung ihrer Sexualität in der Begegnung mit Fachpersonen.Dieses Absprechen von Sexualität kann wiederum dazu führen, dass den Fragen der Verhütung nicht der entsprechende Raum gegeben wird: „Sie hat mit ihr auf Englisch gesprochen und sie hat gesagt, denkst du an Kinder und Schwangerschaft und du bist noch in Asylheim!? Die Frau meinte, sie habe sich gefühlt, als sage sie: ‚Du kannst in dieser Zeit nicht mit deinem Mann schlafen.‘ Sie sagte: Aber ich brauche das! Und dann hat die Person gesagt: Draußen gibt es Kondome, du kannst ein paar nehmen.“
Einfluss von campization auf reproduktive Gerechtigkeit
In Europa besteht einen Trend zur Unterbringung von Geflüchteten in kollektiven Strukturen, die durch einen niedrigeren Lebensstandard und zuweilen halbgeschlossenen Charakter gekennzeichnet sind. Diese Tendenz wurde als campization konzeptualisiert. Dabei wurden die damit einhergehenden, sich wandelnden Vorstellungen und Formen von Eingrenzung, Ausgrenzung und Zeitlichkeit beleuchtet (Kreichauf, 2018). Vor diesem Hintergrund scheint es wichtig aufzuzeigen, wie geflüchtete Frauen gerade in kollektiven Unterkünften mit reproduktiver Ungerechtigkeit in all ihren Facetten konfrontiert sein können. Sexuelle und reproduktive Gesundheit sollte sich in der Folge nicht allein auf Zugang und Information beschränken, sondern als integraler Bestandteil der reproduktiven Gerechtigkeit gesehen werden, der sich mit den allgemeinen Lebensbedingungen und bestehenden Machtverhältnissen befasst. Aus der Perspektive der reproduktiven Gerechtigkeit bedeutet die Beseitigung von Hindernissen eine Veränderung der Systeme, die das Leben von Geflüchteten über den Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheit hinaus beeinflussen. Mit einer solchen erweiterten Perspektive erscheinen auch im Kontext der Gesundheitsversorgung Debatten über institutionelle Politiken der Unterbringung umso wichtiger.
Dieser Beitrag basiert auf einem Artikel, der 2023 im Informationsdienst FORUM der Bundeszentrale für gesundheitlich Aufklärung publiziert wurde (Wegelin et al., 2023).
Literatur:
Amacker, M., Büchler, T., Efionayi-Mäder, D., Egenter, J., Fehlmann, J., Funke, S., Graf, A-L. & Hausammann, C. (2019). Postulat Feri 16.3407. Analyse der Situation von Flüchtlingsfrauen. Zur Situation in den Kantonen. Bericht zu Händen des Staatssekretariats für Migration (SEM) und der Schweizerischen Konferenz der Kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) Bern, Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR).
Forschung (2023). FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 1.
doi.org/10.17623/BZgA_SRH:forum_2023-1_forschung
Cignacco, E., Berger, A., Sénac, C., Wyssmüller, D., Hurni, A. & zu Sayn-Wittgenstein, F. (2017). Sexuelle und reproduktive Gesundheitsversorgung von Frauen und ihren Säuglingen in Asylunterkünften in der Schweiz (REFUGEE). Eine Situationsanalyse und Empfehlungen. Berner Fachhochschule. Departement Gesundheit. Disziplin Geburtshilfe.
Gewalt, S. C., Berger, S., Szecsenyi, J. & Bozorgmehr, K. (2019). „If you can, change this system“ – Pregnant asylum seekers' perceptions on social determinants and material circumstances affecting their health whilst living in state-provided accommodation in Germany – a prospective, qualitative case study. BMC Public Health 19(1): 287.
Kreichauf, R. (2018). From forced migration to forced arrival: the campization of refugee accommodation in European cities. Comparative Migration Studies 6(1): 7.
Ross, L. & Kitchen Politics (2021). Mehr als Selbstbestimmung! Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit. Mit einem Grundlagentext von Loretta J. Ross. Münster, edition assemblage.
Ross, L. J. & Solinger, R. (2017). Reproductive Justice. An Introduction, University of California Press.
Sieber, C. (2017). Schwangerschaftsverhütung: Welchen Zugang haben Asylsuchende in der Schweiz? In FORUM Sexualaufklärung und Familienplanung: Informationsdienst der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 2.
Autorin:
Milena Wegelin, Sozialanthropologin MA, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berner Fachhochschule, Fachbereich Geburtshilfe, und Projektleiterin des Forschungsprojekts „REFPER.“
Kontakt:
milena.wegelin(at)bfh.ch