Sarah Steden, Ulrike Willutzki

Psychotherapeutische Versorgung von Geflüchteten

Die Notwendigkeit zur Einbindung in die Regelversorgung

Schlagwort(e): Geflüchtete, Gesundheitsversorgung, Psychotherapie

Hintergrund
Weltweit ist die Zahl der Menschen, die vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen müssen, so hoch wie noch nie zuvor. Insgesamt 103 Millionen Menschen waren im Jahr 2022 auf der Flucht – das sind 13,6 Millionen Menschen mehr als im Jahr 2021. Besonders Kinder sind unverhältnismäßig stark betroffen. 42 Prozent der gewaltsam vertriebenen Menschen sind Kinder und Jugendliche (UNHCR, 2022). Auch in Deutschland ist die Zahl der ankommenden schutzsuchenden Menschen so hoch wie lange nicht. Zusätzlich zu den 244.132 gestellten Asylanträgen bis Ende Dezember 2022 (BAMF, 2022) kamen über eine Million Menschen nach Deutschland, die vor den russischen Angriffen in der Ukraine geflohen sind. Forschungsergebnisse aus den letzten Jahren zeigen, dass insgesamt ca. 30 bis 50 Prozent der geflüchteten Menschen eine Traumafolgestörung entwickeln (BAfF, 2022a). Um einer Chronifizierung von psychischen Erkrankungen vorzubeugen und die Integration im Aufnahmeland zu ermöglichen, ist es von großer Bedeutung, den geflüchteten Menschen eine frühzeitige Behandlung zu ermöglichen (Wilker & Neuner, 2022).

Psychotherapeutische Behandlung: großer Bedarf und eingeschränkter Zugang
Diesem Bedarf stehen große Mängel in der aktuellen psychotherapeutischen Versorgungslage in Deutschland gegenüber. Seit Jahren fehlen in Deutschland Psychotherapiebehandlungsplätze, sodass Patientinnen und Patienten oft monatelang auf einen Therapieplatz warten müssen. Die Folgen der Coronapandemie haben dies weiter verschärft (BPtK, 2021). Für Menschen mit Fluchthintergrund ist es noch einmal deutlich schwieriger, eine angemessene psychotherapeutische Versorgung zu bekommen. Dies hängt unter anderem mit fehlenden bzw. nicht ausreichenden Gesundheitsleistungen zusammen. In den ersten 18 Monaten des Aufenthalts in Deutschland erhalten schutzsuchende Menschen Gesundheitsleistungen nach § 4 und § 6 Asylbewerberleistungsgesetz. Im Rahmen dieser Regelung werden lediglich erforderliche Behandlungen „akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“ durch die Kostenträger übernommen. Die Kosten einer psychotherapeutischen Behandlung gehören nicht regelhaft zu diesen Leistungen (BAfF, 2020). Erst nach Ablauf von 18 Monaten erhalten Geflüchtete Gesundheitsleistungen nach § 2 AsylbLG, sogenannte Analogleistungen. Auch wenn die Personen weiterhin kein Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherungen sind, erhalten sie eine elektronische Gesundheitskarte und unterliegen nicht mehr den vorherigen Einschränkungen in Bezug auf Gesundheitsleistungen (BAfF, 2020).

Ein weiterer Aspekt, der den Zugang zu psychotherapeutischer Behandlung für Geflüchtete erschwert, ist die Sprache. Sprachmittlungskosten in der Psychotherapie sind keine Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen. Die Beantragung bei anderen Kostenträgern, wie Sozialamt oder Jobcentern, ist prinzipiell möglich, in der Praxis jedoch ein langwieriger, oft vergeblicher Prozess. Der von der Ampel-Regierung 2021 beschlossene Koalitionsvertrag sieht vor, dass „Sprachmittlung auch mit Hilfe digitaler Anwendungen […] im Kontext notwendiger medizinischer Behandlung Bestandteil des SGB V“ wird (SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN & FDP, 2021, Seite 84). Erfahrungen aus der Praxis bestätigen, dass Sprachmittlung, auch für Asylbewerberinnen und Asylbewerber, den Zugang zu notwendigen psychotherapeutischen Leistungen für Geflüchtete deutlich erleichtert. Daher ist die Umsetzung dieser Absicht zu begrüßen.

Aufgrund der oben geschilderten Herausforderungen findet die psychotherapeutische Behandlung von Geflüchteten in der Regelversorgung kaum statt. Wenn überhaupt, werden geflüchtete Menschen in Deutschland derzeit in spezialisierten Zentren, den Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (PSZ), psychotherapeutisch behandelt. Die PSZs können die Versorgung jedoch allein ebenfalls nicht sicherstellen. Der psychosoziale Versorgungsbericht der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer kommt zu dem Schluss, dass die Psychosozialen Zentren im Jahr 2020 nur 4,6 Prozent des potenziellen Versorgungsbedarfs der geflüchteten Menschen in Deutschland decken konnten (BAfF, 2022b). Dies zeigt, dass die Öffnung der psychotherapeutischen Regelversorgung für Geflüchtete unbedingt notwendig ist.

Das Projekt
Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 führte schnell zu einer großen Fluchtbewegung. Bereits Ende März waren knapp 370.000 Ukrainerinnen und Ukrainer im Ausländerzentralregister registriert (Mediendienst Integration, 2023). Das Department für Psychologie und Psychotherapie der Universität Witten/Herdecke hatte dies, gemeinsam mit dem Zentrum für Psychotherapie (ZPT) der Ruhr-Universität Bochum, zum Anlass genommen, eine Gruppe von Fachpersonen aus den Bereichen Psychotherapie und Sprachmittlung zu gründen, die geflüchteten Personen aus der Ukraine ehrenamtlich und unbürokratisch psychotherapeutische Unterstützung und Beratung anboten. Die beteiligten Fachleute zeigten ein beeindruckendes Engagement und innerhalb kürzester Zeit konnten geflüchtete Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit psychologischem Unterstützungsbedarf in eine Therapie vermittelt werden. Um die Therapeutinnen und Therapeuten auf die Arbeit vorzubereiten und sie bestmöglich zu unterstützen, wurden verschiedene kurze Schulungen, unter anderem zu den Themen Psychotherapie und Flucht, Krisenintervention und Besonderheiten bei der Therapie geflüchteter Kinder und Jugendlicher, angeboten. Zudem wurde vom Department für Psychologie und Psychotherapie der Universität Witten/Herdecke ein Angebot für Fallbesprechungen und auch zur Klärung weiterer organisatorischer und themenspezifischer Fragen eingerichtet.

Fallbeispiel
Ein 12-jähriger Junge aus der Ukraine mit Waschzwängen wurde von der ehrenamtlichen Begleiterin einer Kirchengemeinde angemeldet. Die Waschzwänge bestanden bereits seit längerer Zeit, hatten sich aber nach den Luftangriffen auf seine Heimatstadt und die anschließende Flucht nach Deutschland noch deutlich verstärkt. Der Junge konnte an eine Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin aus dem gegründeten Projekt vermittelt werden. Sie machte ihm zunächst ehrenamtlich ein muttersprachliches Beratungsangebot, im weiteren Verlauf konnte die Therapie bei der Krankenkasse beantragt werden. Die Therapeutin selbst nutzte zwischenzeitlich die angebotene Möglichkeit zur Fallbesprechung. Nach den ersten Erfahrungen war sie sehr motiviert, auch in Zukunft geflüchtete Personen in ihrer Praxis aufzunehmen.

Die Erfahrungen aus dem Projekt waren so positiv, dass sich das Department für Psychologie und Psychotherapie entschied, langfristig ein Konzept für ein Projekt für die verbesserte psychotherapeutische Versorgung von geflüchteten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Regelsystem zu entwickeln und nicht weiter lediglich ein spezielles Angebot für Personen aus der Ukraine bereitzustellen. In der Folge wurde an der Universität Witten/Herdecke ein Pilotprojekt eingerichtet. Geplant ist, eine Koordinierungsstelle einzurichten und ein Netzwerk an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten aufzubauen, die bereit sind, längerfristig und regelmäßig geflüchtete Kinder, Jugendliche und Erwachsene in ihren Praxen zu behandeln. Ziel ist es, langfristig die psychotherapeutische Versorgung von Geflüchteten in der Region zu verbessern.

Literatur
BAfF (2020). Arbeitshilfe: Leitfaden zur Beantragung einer Psychotherapie für Geflüchtete https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2021/03/BAfF_Arbeitshilfe_Therapiebeantragung-1.pdf

BAfF (2022a). Traumasensibler und empowernder Umgang mit Geflüchteten: Ein Praxisleitfaden. https://www.baff-zentren.org/wpcontent/uploads/2022/04/BAfF_Praxisleitfaden_Traumasensibler-Umgang-mit-Gefluechteten.pdf

BAfF (2022b). Flucht und Gewalt. Psychosozialer Versorgungsbericht Deutschland 2022. https://www.baff-zentren.org/wp-content/uploads/2022/07/BAfF_Versorgungsbericht-2022.pdf

BAMF (2022). Asylgeschäftsstatistik. https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/Asylgeschaeftsstatistik/hkl-antragsentscheidungs-bestandsstatistikl-kumuliert-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=22

BPtK (2021). BPtK-Auswertung: Monatelange Wartezeiten bei Psychotherapeut*innen. Corona-Pandemie verschärft das Defizit an Behandlungsplätzen. https://www.bptk.de/bptk-auswertung-monatelange-wartezeiten-bei-psychotherapeutinnen/

Mediendienst Integration (2023). Flüchtlinge aus der Ukraine. https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/ukrainische-fluechtlinge.html

SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN & FDP (2021). Koalitionsvertrag: Mehr Fortschritt wagen - Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/1f422c60505b6a88f8f3b3b5b8720bd4/2021-12-10-koav2021-data.pdf?download=1

UNHCR (2022). Zahlen & Fakten zu Menschen auf der Flucht. https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen

Wilker, S. & Neuner, F. (2022). Psychotherapeutische Behandlung für Geflüchtete in Deutschland: Aktuelle Versorgungslücke und Behandlungsmöglichkeiten. In: InfoDienst Migration, Flucht und Gesundheit, BZgA, Heft 1/23. https://infodienst.bzga.de/fileadmin/user_upload/infodienst/Migration/PDF-Archiv/PDF_2023_01_Infodienst_Migration.pdf

Autorinnen
Sarah Steden, Psychologische Psychotherapeutin, koordiniert an der Universität Witten/Herdecke das Projekt zur psychotherapeutischen Versorgung von Geflüchteten in der Regelversorgung.
Kontakt:
Universität Witten Herdecke, Department für Psychologie und Psychotherapie, Alfred-Herrhausen-Straße 50, 58448 Witten

Prof. Dr. Ulrike Willutzki leitet den Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie sowie das Zentrum für Psychische Gesundheit und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke.
Kontakt:
Universität Witten Herdecke, Department für Psychologie und Psychotherapie, Alfred-Herrhausen-Straße 50, 58448 Witten


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