Sarah Wilker, Frank Neuner

Psychotherapeutische Behandlung für Geflüchtete in Deutschland: Aktuelle Versorgungslücke und Behandlungsmöglichkeiten

Schlagwort(e): Geflüchtete, Gesundheitsversorgung, Psychische Gesundheit, Traumatisierung

Traumatische Erfahrungen und Traumafolgestörungen bei Menschen mit Fluchterfahrung

Menschen, die aus Kriegs- und Krisenregionen nach Deutschland fliehen, berichten oft eine Vielzahl von traumatischen Erfahrungen. Im Heimatland wurden beispielsweise Folter, Kriegshandlungen und Bombenanschläge erlebt, und auf der Flucht gefährliche Bootsüberfahrten, Gewalt durch Schlepper oder Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen Europas. Je mehr solcher Erfahrungen gesammelt werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung psychischer Störungen (Neuner et al., 2004; Wilker et al., 2015).

Postmigrationsstressoren, wie beispielsweise ein schwieriges Asylverfahren, beengte Wohnverhältnisse oder das Fehlen einer Arbeitserlaubnis, können die psychischen Symptome zusätzlich verstärken (Li et al., 2016). Darüber hinaus können Sorgen um Angehörige im Heimatland sowie soziale Ablehnungserfahrungen die Symptome weiter verschärfen (Neuner, 2022). Aktuelle Schätzungen gehen von einer Prävalenz der Posttraumatischen Belastungsstörung bei Geflüchteten in Deutschland von ca. 30 Prozent aus (Hoell et al., 2021). Unbehandelt nehmen Traumafolgestörungen häufig einen chronischen Verlauf und sind mit massiven Leiden und Problemen in der Alltagsführung sowie im Sozial- und Familienleben verbunden. Daraus folgt, dass für Betroffene die Partizipation in der Gesellschaft des Aufnahmelands, das Erlernen der neuen Sprache und die Bewältigung der vielfältigen Anforderungen im neuen Land deutlich erschwert sind (Elbert et al., 2017). Darüber hinaus zeigen eine Vielzahl von Studien, dass Traumafolgestörungen mit starken körperlichen Stresssymptomen und langfristig mit der Entstehung körperlicher Erkrankungen in Verbindung stehen (Schry et al., 2015). Zusammengenommen ist eine frühzeitige Behandlung essenziell, um eine Chronifizierung zu verhindern, das Risiko stressassoziierter körperliche Erkrankungen zu senken und einen gelungenen Integrationsprozess zu ermöglichen.

Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung mit der Narrativen Expositionstherapie

Die deutschen und die internationalen Leitlinen empfehlen eine sogenannte traumafokussierte Psychotherapie als Methode erster Wahl zur Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung. Ziel dieser Therapien ist, die Überlebenden traumatischer Ereignisse aktiv dabei zu unterstützen, die traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Unter den traumafokussierten Therapiemethoden ist die Narrative Expositionstherapie (NET) (Neuner et al., 2021; Schauer et al., 2011) die Methode, zu der es am meisten Evidenz zur Behandlung von Menschen, die Kriege und Verfolgung erlebt haben, gibt. Die NET ist eine Kurzzeittherapie zur Behandlung der PTBS, die entwickelt wurde, um den Bedürfnissen von Überlebenden mit vielfachen traumatischen Erfahrungen gerecht zu werden. Mit einfachen, kulturübergreifend anwendbaren Techniken hilft sie den Überlebenden, Worte für die traumatischen Ereignisse zu finden und wieder in der Lage zu sein, die eigene Geschichte zu erzählen. Die Lebenslinien-Übung zu Beginn der Therapie vermittelt einen Überblick über das Leben der Patientinnen und Patienten, einschließlich der erlebten Traumata. Ein Seil symbolisiert den Fluss des Lebens von der Geburt bis zum jetzigen Augenblick. Blumen repräsentieren positive Ereignisse und Steine negative und traumatische Erfahrungen. So wird ein erster Überblick über die Lebensgeschichte gewonnen. In den nachfolgenden Sitzungen wird die Lebensgeschichte erzählt, dabei wird auf die traumatischen Ereignisse fokussiert. Mittels Expositionstherapie werden die traumatischen Erfahrungen chronologisch rekonstruiert. Die Emotionen, Gedanken, Sinnes- und Körperempfindungen während des Traumas werden aktiviert und verarbeitet, und das Ereignis im lebensgeschichtlichen Kontext verortet. Eine Vielzahl von Studien zeigt eine hohe Effektivität der NET, insbesondere in Kriegs- und Krisenregionen und bei geflüchteten Patientinnen und Patienten (Crombach & Siehl, 2018; Jacob et al., 2017; Nosè et al., 2017). Ein Vorteil der Behandlungsmethode ist, dass sie bei einer relativ kurzen Behandlungsdauer einen deutlichen und lang anhaltenden Behandlungserfolg zeigt und daher eine gute Möglichkeit darstellt, vielen Patientinnen und Patienten Zugang zu Psychotherapie zu ermöglichen. Weiterführende Informationen zur NET bieten beispielsweise das deutschsprachige Behandlungsmanual (Neuner et al., 2021) sowie das kostenlose Online-Training „Shelter“, welches in die dolmetschergestützte Therapie von geflüchteten Patientinnen und Patienten mittels NET einführt (https://shelter-trauma.elearning-kinderschutz.de/).

Erschwerter Zugang zu evidenzbasierter Behandlung für Geflüchtete

Allerdings ist der Zugang zu evidenzbasierter Behandlung für Geflüchtete in Deutschland stark erschwert (Boettcher et al., 2021). So wird derzeit angenommen, dass in Deutschland nur 6 Prozent der geflüchteten Patientinnen und Patienten mit Behandlungsbedarf auch einen Psychotherapieplatz erhalten. Dabei werden Therapien mit Patientinnen und Patienten mit Fluchterfahrungen fast ausschließlich in spezialisierten Behandlungszentren durchgeführt. In niedergelassene Psychotherapiepraxen können weniger als 1 Prozent der Geflüchteten mit Behandlungsbedarf vermittelt werden (Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – BAfF e. V., 2021).

Die Gründe für diese Unterversorgung sind vielfältig. Neben der generellen Knappheit an Psychotherapieplätzen führen verschiedene organisatorische Barrieren zu einem reduzierten Zugang zu Psychotherapie. So sind Geflüchtete mit einer Aufenthaltsdauer unter 18 Monaten in Deutschland in der Regel nicht in das Krankenkassensystem integriert und die Abrechnung erfolgt über Behandlungsscheine, was zusätzlichen Aufwand für Patientinnen und Patienten sowie Behandlerinnen und Behandler bedeutet. Zudem werden Kosten für Sprachmittelnde nicht ohne Weiteres erstattet, und die Suche nach geeigneten Sprachmittlelnden gestaltet sich oft schwierig (Bogatzki, 2021). Darüber hinaus begeben sich viele behandlungsbedürftige Geflüchtete selbst nicht auf die Suche nach einem Therapieplatz, da Wissen über psychische Störungen und Hilfsangebote im deutschen Gesundheitssystem fehlen (Boettcher et al., 2021). Schließlich gibt es auch auf Seite der Behandlerinnen und Behandler Ängste und Vorbehalte bezüglich der Behandlung von Geflüchteten. So erwarten Psychotherapeutinnen und -therapeuten durchschnittlich mehr Schwierigkeiten in der therapeutischen Beziehungsgestaltung bei Menschen mit Fluchterfahrung im Vergleich zu Menschen ohne Fluchterfahrung – und würden bei gleicher Symptomatik häufiger eine medikamentöse oder stationäre Behandlung anstelle einer ambulanten Psychotherapie empfehlen (Dumke & Neuner, 2022).

Notwendige Veränderungen im Gesundheitssystem

Wenn eine effektive, evidenzbasierte Behandlung in Deutschland gelingen soll, müssen diese Barrieren dringend abgebaut werden. Geflüchtete sollten in das reguläre Gesundheitssystem integriert werden, um einen adäquaten Zugang zu psychotherapeutischer Versorgung zu realisieren (Bozorgmehr & Razum, 2016). Um Geflüchtete zu erreichen, die bislang kaum Kontakt mit dem Gesundheitssystem hatten und über wenig Wissen über Behandlungsmöglichkeiten psychischer Störungen verfügen, können aufsuchende Screening-Ansätze im Lebensumfeld der Geflüchteten eine wirksame Strategie darstellen (Magwood et al., 2022, Schmidt et al., eingereicht). Darüber hinaus sollte die therapeutische Arbeit mit Geflüchteten in der Aus- und Weiterbildung von Therapeutinnen und Therapeuten einen höheren Stellenwert einnehmen, sodass Vorbehalte und Ängste abgebaut werden können (Dumke & Neuner, 2022). Schließlich wären Maßnahmen zur Vermittlung von qualifizierten Sprachmittelnden sowie die Übernahme von Kosten für Sprachmittlung dringend erforderlich (Bogatzki, 2021). Eine regionale Koordinierungsstelle könnte Therapeutinnen und Therapeuten unterstützen und so den zusätzlichen Aufwand, der beispielsweise durch die Suche nach geigneten Sprachmittelnden entsteht, reduzieren (vgl. Abbildung 1).

Zusammenfassend besteht ein hoher Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung traumatisierter Geflüchteter. Mit der NET steht ein evidenzbasierter Traumatherapie-Ansatz zur Verfügung, der auch bei einer hohen Anzahl traumatischer Ereignisse nachweislich zu einer deutlichen und lang anhaltenden Symptomreduktion führt. Derzeit erhalten in Deutschland jedoch nur sehr wenige Geflüchtete Zugang zu evidenzbasierter Psychotherapie, sodass hier strukturelle Veränderungen nötig sind, um die Versorgungslage zu verbessern (vgl. Abbildung 1).

Literatur

Boettcher, V., Nowak, A., & Neuner, F. (2021). Mental health service utilization and perceived barriers to treatment among adult refugees in Germany. European Journal of Psychotraumatology, 12(1), 1910407.

Bogatzki, L. (2021). Psychotherapeutische Regelversorgung für Geflüchtete. Psychotherapie Aktuell, 13(4), 22–27.

Bozorgmehr, K., & Razum, O. (2016). Refugees in Germany-untenable restrictions to health care. Lancet (London, England), 388(10058), 2351–2352.

Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – BAfF e. V. (2021). Datenbericht: Datenlage zur psychosozialen Versorgung von Überlebenden von Krieg, Folter und Flucht in Deutschland: Datenerhebung 2019. Retrieved from www.baff-zentren.org

Crombach, A., & Siehl, S. (2018). Impact and cultural acceptance of the Narrative Exposure Therapy in the aftermath of a natural disaster in Burundi. BMC Psychiatry, 18(1), 233.

Dumke, L., & Neuner, F. (2022). Othering Refugees: Psychotherapists’ Attitudes toward Patients with and without Refugee Background. Psychotherapy Research. doi: 10.1080/10503307.2022.2150097

Elbert, T., Wilker, S., Schauer, M., et al. (2017). Dissemination psychotherapeutischer Module für traumatisierte Geflüchtete : Erkenntnisse aus der Traumaarbeit in Krisen- und Kriegsregionen. Der Nervenarzt, 88(1), 26–33.

Hoell, A., Kourmpeli, E., Salize, H., et al. (2021). Prevalence of depressive symptoms and symptoms of post-traumatic stress disorder among newly arrived refugees and asylum seekers in Germany: Systematic review and meta-analysis. BJPsych Open, 7(3), e93.

Jacob, N., Wilker, S., & Isele, D. (2017). Narrative Expositionstherapie zur Behandlung von Traumafolgestörungen: Evidenz, Dissemination und neueste Entwicklungen weltweit. Swiss Arch Neurol Psychiatr Psychother, 168(04), 99–106.

Li, S., Liddell, B., & Nickerson, A. (2016). The Relationship Between Post-Migration Stress and Psychological Disorders in Refugees and Asylum Seekers. Current Psychiatry Reports, 18(9), 82.

Magwood, O., Kassam, A., Mavedatnia, D., et al. (2022). Mental Health Screening Approaches for Resettling Refugees and Asylum Seekers: A Scoping Review. International Journal of Environmental Research and Public Health, 19(6).

Neuner, F. (2022). Physical and social trauma: Towards an integrative transdiagnostic perspective on psychological trauma that involves threats to status and belonging. Clinical Psychology Review, 99, 102219.

Neuner, F., Catani, C., & Schauer, M. (2021). Narrative Expositionstherapie (NET) (1. Auflage). Fortschritte der Psychotherapie: Band 83. Göttingen: Hogrefe.

Neuner, F., Schauer, M., Karunakara, U., et al. (2004). Psychological trauma and evidence for enhanced vulnerability for posttraumatic stress disorder through previous trauma among West Nile refugees. BMC Psychiatry, 4(1), 1705.

Nosè, M., Ballette, F., Bighelli, I., et al. (2017). Psychosocial interventions for post-traumatic stress disorder in refugees and asylum seekers resettled in high-income countries: Systematic review and meta-analysis. PLoS ONE, 12(2), e0171030.

Schauer, M., Neuner, F., & Elbert, T. (2011). Narrative exposure therapy: A short-term treatment for traumatic stress disorders: Hogrefe Publishing.

Schmidt, T., Catani, C., Dumke, L. et al. (eingereicht). Welcome, how are you doing? - Towards a systematic mental health screening and crisis management for newly arriving refugees. Submiited to European Journal of Psychotraumatology, preprint verfügbar unter doi: 10.31234/osf.io/wq5cu

Schry, A., Rissling, M., Gentes, E., et al. (2015). The Relationship Between Posttraumatic Stress Symptoms and Physical Health in a Survey of U.S. Veterans of the Iraq and Afghanistan Era. Psychosomatics, 56(6), 674–684.

Wilker, S., Pfeiffer, A., Kolassa, S., et al. (2015). How to quantify exposure to traumatic stress? Reliability and predictive validity of measures for cumulative trauma exposure in a post-conflict population. European Journal of Psychotraumatology, 6, 28306.

Autorin und Autor:

Dr. Sarah Wilker arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld und erforscht, wie der Zugang zu evidenzbasierter Versorgung für Überlebende von Krieg, Gewalt und Flucht verbessert werden kann.
Kontakt:
Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld,

Prof. Dr. Frank Neuner
Kontakt:
Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld


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