Für Refugio München e. V.:Guido Terlinden

Psychosoziales Behandlungszentrum (PSZ) für Menschen mit Kriegs- und Fluchterfahrungen

Psychologische Erste Hilfe: das Mental Health Center Ukraine (MHCU*)

Valerija

Eine 17-jährige Abiturientin aus Charkiw, die wegen des Kriegs im März 2022 aus der Ukraine flüchten musste, wird ihr Abitur dieses Jahr nicht machen können, Ihr Traum, ein Medizinstudium zu beginnen, ist zerplatzt. Aufgrund von Ängsten und sich häufenden Panikattacken stellt sie sich in der Krisensprechstunde unseres psychosozialen Behandlungszentrums vor. Die Gastfamilie hatte Valerija angemeldet, da bereits wiederholt der Krankenwagen gerufen werden musste. Bei den „Anfällen“ komme es vor, dass sie kollabiere und nicht ansprechbar sei. Die Jugendliche gibt an, unter ständiger Angst vor neuen „Anfällen“ zu leiden. In den Situationen erlebe sie intensive Gefühle von Angst und Kontrollverlust. Sie verspüre dann auch starkes Herzklopfen und Schwindel. Während der Sprechstunde kommt es unvermittelt zu zwei Panikattacken mit Hyperventilation. Valerija wird aufgefordert, auf eine ruhige Atmung zu achten. Die Ausatmung soll mit Lippenbremse erfolgen, zudem wird die Technik der Tütenrückatmung erklärt. Es werden psychoedukative Aspekte besprochen: Anhand der „Angstkurve“ wird der Patientin am Flipchart erklärt, dass Angst sich nicht ins Unendliche steigert, dass jedoch die Annahme bei den Betroffenen besteht, die Angst werde immer stärker. Dies beschleunige das Gefühl von Kontrollverlust und Panik, was mit ausgeprägten vegetativen Symptomen (erhöhter Pulsschlag, Zittern, Schwitzen, Kloßgefühl etc.) einhergehen kann. Zudem kann es zu Todesängsten kommen. Genau dies bejaht die Patientin und erscheint erleichtert, als ihr erklärt wird, dass sie in den Angstattacken nicht sterben wird, dass dies „nur“ Gedanken oder Annahmen von ihr seien. Sie wurde angeregt, einen „Kraftspruch“ aufzuschreiben, der ihr Mut machen soll und in den Angstzuständen helfen kann. Um auf die von der Patientin erlebte körperliche Anspannung einzugehen, wurde die Möglichkeit des Einsatzes von Skills, etwa hilfreichen sinnesbetonten Maßnahmen, erläutert. Hierfür bekam die Patientin einen Fingermassagering und machte so die Erfahrung, wie Anspannung sich reduzieren und sich das Bewusstsein vom Druck im Brustbereich weg zur Hand lenken ließ. Valerija wurde gefragt, was sie früher gern gemacht habe. Begeistert berichtete sie vom Taekwondo-Sport. Sie wurde ermutigt, an ihrem neuen Wohnort nach einer Möglichkeit für ihren Lieblingssport zu suchen. Nach der Krisensprechstunde wurde vereinbart, nach einer Woche telefonisch in Kontakt zu treten. Valerija berichtete, dass es ihr deutlich besser gehe und sie nur noch eine Panikattacke gehabt habe. Sie war besser in der Lage, die Ängste zu regulieren. Eine jederzeitige Wiedervorstellung bei Verschlechterung wurde angeraten.

Alexander

Ein knapp fünfjähriger Junge wurde von seiner Mutter vorgestellt, da sie sich Sorgen über sein aggressives Verhalten machte. Zudem war sie „genervt“, da er ständig an ihr hinge und sie kaum allein das Haus verlassen könne. Auch mache er wieder ins Bett, wo er doch seit zwei Jahren schon trocken gewesen sei. Die Mutter ist mit ihrer 14-jährigen Tochter und ihrem Sohn aus der Ostukraine geflohen. Sie habe dort als Lehrerin gearbeitet, was sie derzeit immer noch tue (Distanzunterricht). Alexander sei sehr aggressiv, sie könne kaum noch auf den Spielplatz gehen. Er schlage andere Kinder, dies habe er vorher nicht getan. Im Gespräch gab sie dann an, selbst reflexartig aggressiv auf sein Verhalten zu reagieren. Dies tue ihr leid, aber sie wisse sich dann nicht anders zu helfen. Alexander habe einen Bombenanschlag miterlebt, der Knall habe ihn in der Nacht zutiefst erschreckt. Mit dem Vater, der in der Ukraine zurückbleiben musste, wolle er nicht telefonieren. Alexander wirkt im Erstkontakt freundlich und etwas zurückhaltend. Zum Spielen sucht er sich Autos aus. Er „produziert“ eine Kollision nach der anderen und erscheint während des Spiels eher ernst. Die Mutter wird ausführlich hinsichtlich der neu aufgetretenen Verhaltensweisen ihres Sohnes beraten. Diese lassen sich als „normale“ akute Belastungsreaktionen nach traumatischen Erlebnissen erklären. Das Kind ist sozusagen noch im Überlebensmodus und auf Kampf oder Flucht (fight or flight) eingestellt. Andererseits aktivieren Stresssituationen bei Kindern das Bindungssystem und können je nach Veranlagung und Prägung zu einem sehr anhänglichen Verhalten führen. Dies könnte ein Zeichen dafür sein, dass das Kind momentan noch sehr schutz- und sicherheitsbedürftig ist. Ein wichtiger Aspekt in der Beratung ist auch die Kommunikation mit Kindern über die Themen Krieg und Flucht. Kinder trauen sich häufig nicht, Fragen zu stellen, weil sie die Eltern nicht zusätzlich belasten wollen. Sie brauchen kindgerechte und gut dosierte Informationen, die auf jeden Fall der Wahrheit entsprechen und nichts beschönigen. Im Gespräch wurde deutlich, dass die Mutter mit Alexander bisher wenig über den Krieg und die Flucht geredet hat. Ihr wurde bewusst, dass Alexander vermutlich noch nicht (richtig) weiß, dass er jetzt in einem anderen Land ist, wo kein Krieg herrscht und er sicher ist. Mit der Mutter wurde besprochen, wie das Sicherheitsgefühl gestärkt und der Fokus wieder mehr auf positive Dinge gelenkt werden könnte. Befragt nach dem eigenen Befinden, schossen der Mutter Tränen in die Augen. Sie gab an, selbst sehr belastet zu sein. Gemeinsam wurde überlegt, was sie entlasten könnte. Profitieren würde nicht nur sie von den entlastenden Maßnahmen, sondern auch Alexander.

Das Mental Health Center Ukraine (MHCU*)

Es waren günstige Umstände, die uns als psychosoziales Behandlungszentrum für Menschen mit Kriegs- und Fluchterfahrungen in der Akutversorgung von ukrainischen Geflüchteten sofort „einsatzfähig“ machten. Eine ukrainisch-deutsche Kollegin, die bereits bei Refugio München arbeitete, wurde zwei Wochen nach Ausbruch des russischen Angriffskriegs von ihrem vorherigen Tätigkeitsfeld freigestellt, um die Koordination sämtlicher Anfragen hinsichtlich der psychosozialen Versorgung von aus der Ukraine geflüchteten Menschen zu übernehmen. Es entstand eine gute Vernetzung mit der ukrainischen Community und anderen Akteuren im ehrenamtlichen und hauptamtlichen Helfersystem. Bis zur Eröffnung unseres neues Mental Health Centers Ukraine (MHCU*) stellten alle Fachbereiche unseres PSZs (Erwachsenenteam, Kinder-Jugend-Team, Kunstwerkstatt, muttersprachliches Elterntraining und Fortbildungsabteilung) Ressourcen zur Verfügung, um direkt betroffenen Menschen psychologische Erste Hilfe wie auch psychoedukative und pädagogische Gruppen anzubieten und Helfer und Fachkräfte fortzubilden und zu informieren. Für das MHCU* konnten zwei Ukraine- und eine Russland-stämmige Psychotherapeutinnen wie auch eine Dolmetscherin gefunden werden, die seit Mai 2022 psychologische Einzel- und Gruppenbehandlungen und Beratungen in der Muttersprache anbieten.

Zielgruppe des Mental Health Centers Ukraine sind Kinder, Jugendliche, deren Elternteile sowie Erwachsene, die aus der Ukraine geflüchtet sind. Es ist ausdrücklich auch offen für Geflüchtete aus der Ukraine, die als ausländische Studierende, als Geflüchtete oder russischstämmige Personen dort gelebt haben. Einen hohen Anteil unter den Geflüchteten in München haben Familien mit Romahintergrund, darunter befinden sich zwischen 50 bis 70 Prozent Kinder. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt zudem den besonders vulnerablen LGBTI*-Geflüchteten, der Gruppe der BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) sowie Menschen mit Behinderung.

Die Symptomatik in der Akutphase

Die Menschen, die in der Akutphase – die einige Wochen anhalten kann – psychische Reaktionen auf Krieg und Flucht zeigen, sind nicht krank, sondern aufgrund außergewöhnlicher, existenziell bedrohlicher Umstände stark belastet und teils beeinträchtigt. Ihre Grundannahmen wie beispielsweise „Ich bin sicher“ oder „Ich habe eine gute Zukunft“ wurden zutiefst erschüttert. Wiederkehrende innere Bilder und Träume von traumatisierenden Erlebnissen im Krieg und auf der Flucht wie auch der Verlust von Hab und Gut, Familie, Freunden und dem Alltag können zu starkem Stresserleben führen. Häufig erlebte akute Stressreaktionen sind beispielsweise Schlafstörungen, Übererregungssymptome, Ängste, innere Unruhe, Gereiztheit oder depressive Verstimmungen. Im Kontakt zu anderen Menschen können Gefühlsausbrüche, Wutanfälle, aber auch Rückzug und völliges Verstummen beobachtet werden. Die Menschen leiden häufig unter Schuld- und Ohnmachtsgefühlen. Die Symptomatik beeinträchtigt die Menschen im Alltag, drückt sich oft auch in körperlichen Beschwerden aus, erschwert Eltern-Kind-Beziehungen und die Integration im Exilland oftmals erheblich. Kindheit und Jugend sind besonders kritische Lebensphasen, in denen traumatische Erfahrungen die Gesundheit und psychische Funktionstüchtigkeit deutlich beeinträchtigen können. Auch sehr kleine Kinder können akute Belastungssymptome entwickeln, erscheinen motorisch unruhiger, zeigen Rückschritte in Entwicklungsschritten und anklammerndes Verhalten.

Eine zentrale Voraussetzung zur Reduktion der psychischen Belastung ist eine stabile und sichere Umgebung, in der die Geflüchteten zur Ruhe kommen können. Hat die äußere Bedrohung nachgelassen, kann die psychische Belastung anhalten oder tritt noch deutlicher hervor. Zu diesem Zeitpunkt sind unterstützende Maßnahmen entscheidend, die im Sinne einer Psychoedukation den Menschen Hilfestellung geben, damit sie ihre außerordentliche psychische Symptomatik selbst verstehen und Hilfen an die Hand bekommen, wie sie mit belastenden Symptomen gut umgehen können. Es ist von besonderer Bedeutung, dass die Menschen wieder ein Gefühl der eigenen Sicherheit herstellen können und sich wieder als handlungsfähig erleben.

Frühe psychosoziale Unterstützung und gezielte psychologische, traumasensible Interventionen können nach traumatischen Erlebnissen dazu beitragen, dass Menschen sich psychisch wieder stabilisieren, das Erlebte integrieren können und keine anhaltende Störung entwickeln. Insbesondere Kinder sind auf frühe Ansprache und Möglichkeiten zum Ausdruck ihrer Gefühle angewiesen, um das Erlebte zu verarbeiten.

Unterstützungs- und Behandlungsmöglichkeiten

Für das MHCU* sind folgende Unterstützungs- und Behandlungsmöglichkeiten vorgesehen, die im Sinne eines Stepped-Care-Ansatzes an den jeweiligen Bedarf der Betroffenen angepasst werden können:

  • Zur ersten Stabilisierung stark belasteter Personen wird im Rahmen der Krisensprechstunden maßgeblich nach dem BELLA-Konzept für Krisenintervention nach Hockel (2013) gearbeitet, das vor allem das Wiedererlangen der eigenen Handlungsfähigkeit und des Gefühls eigener Sicherheit zum Ziel hat (BELLA = Beziehung aufbauen – Erfassen der Situation – Linderung der Symptome – Leute einbeziehen – Ansatz zur Problembewältigung). Je nach Bedarf stehen den Klientinnen und Klienten bis zu drei Terminen zur Verfügung. Es handelt sich in erster Linie um ein stabilisierendes und psychoedukatives Angebot wie auch ein psychotherapeutisches Clearing hinsichtlich dringender weiterführender Maßnahmen – von psychiatrischer Versorgung bis Kinderschutz. Für die Klärung offener sozialer Fragen der Klientel und das Clearing von möglichen Unterstützungsmaßnahmen steht dabei ergänzend eine sozialpädagogische Fachkraft zur Verfügung.
  • Als weiteres Modul werden verschiedene ressourcenstärkende und psychoedukative Gruppen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit jeweils sechs Sitzungen angeboten. Im künstlerischen und kreativen Schaffen werden in der kunsttherapeutischen Kindergruppe Freude und individuelle Stärken geweckt und Raum geschaffen, Gedanken und Gefühle auszudrücken. Therapeutisch geht es um die Themen Sicherheit und Schutz der Würde des Kindes. Parallel zu diesem Kurs findet eine stabilisierende Elterngruppe mit psychoedukativen Inhalten statt. Eltern mit Kriegs- und Fluchterfahrungen machen sich häufig Sorgen um ihre Kinder und haben selbst mit Belastungen und Stress zu kämpfen. In der Psychoedukationsgruppe erhalten die Teilnehmenden Informationen über häufig erlebte Reaktionen nach außergewöhnlichen Belastungen und bekommen Anregungen, wie sie mit den aktuellen Herausforderungen gut umgehen können. Darüber hinaus bietet die Gruppe einen geschützten Raum, in dem sich die Teilnehmenden gegenseitig unterstützen können. Die Gruppe ermöglicht außerdem, das eigene Leiden nicht als individuelle Schwäche anzusehen, sondern als „normale“ Reaktion auf außerordentliche Erfahrungen. In der Gruppe für Jugendliche „Recreate your future“ wird den Teilnehmenden Raum gegeben, sich mit dem Verlust der Heimat und somit mit dem Verlust vieler Pläne und Ziele auseinanderzusetzen. Die Jugendlichen erfahren im kreativen Tun, wie sie nach traumatischen Erfahrungen Ressourcen und neuen Sinn finden und diese für ihren weiteren Weg nutzen können.
  • Ehrenamtlich wie auch hauptamtlich Helfende der ukrainisch- und russischsprachigen Community haben sich in den Wochen nach Ausbruch des Kriegs übermäßig engagiert und sind häufig über ihre eigenen Grenzen gegangen. Hierbei haben einige Überlastungsreaktionen an sich festgestellt. Zudem besteht bei den Zuhörenden die Gefahr, durch Erzählungen von traumatischen Ereignissen selbst Symptome von Traumafolgestörungen zu entwickeln. In der Gruppe für ehrenamtlich Engagierte werden die Teilnehmenden über mögliche Reaktionen und Zeichen von Überlastungen informiert und bekommen Anregungen im Umgang mit Beschwerden, um präventiv einem Burnout vorbeugen zu können. Viele Menschen aus der Ukraine haben einen besonderen Zugang zum Tanz, weswegen wir auch eine Tanzgruppe planen. In der Bewegung können Gedanken und Gefühle ausgedrückt werden, aber auch Spaß und gemeinsame Freude dürfen Platz haben. Ressourcen und Stärken sollen (wieder-)entdeckt werden

 

Fazit:

Wir gehen davon aus, dass sich die psychosozialen Behandlungsbedarfe in den nächsten Wochen ändern werden. Die seelischen Belastungen, unter denen viele Menschen in der Akutphase leiden, werden nachlassen, und viele werden sich allmählich erholen und immer mehr einem geregelten Alltag nachgehen. Es wird aber auch Menschen geben, bei denen sich die Probleme chronifizieren und verkomplizieren. Auch sehen wir Menschen in den Krisensprechstunden, die bereits vor Kriegsausbruch im Februar 2022 psychisch erkrankt waren. Darunter sind auch einige mit Reaktivierungen von Traumafolgestörungen durch Kriegserlebnisse seit 2014. Von daher gehen wir davon aus, dass in den nächsten Monaten der Bedarf antraumaspezifischen psychotherapeutischen Interventionenim Einzel- und Gruppensetting zunehmen wird.

 

Literatur:
Hockel, C. M. (2013). Beziehungsgestaltung bei Krisen im Kindes- und Jugendalter. In: Christine Papastefanou (Hrsg.), Krisen und Kriseninterventionen bei Kindern und Jugendlichen (S. 57–74). Stuttgart: W. Kohlhammer

Autor:
Dr. med. Guido Terlinden ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie im psychosozialen Behandlungszentrum für Geflüchtete und Folteropfer und arbeitet u. a. in einem. Früherkennungsprojekt zur Identifizierung von vulnerablen Geflüchteten in einer Erstaufnahmeeinrichtung in München; seit Mai 2022 in der therapeutischen Leitung des Mental Health Centers Ukraine. Er ist zertifizierter Traumapsychotherapeut für Kinder und Jugendliche (DeGPT).

Kontakt:
mhcu(at)refugio-muenchen.de


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