Thi Tuyet-Trinh Nguyen, Marcus Wächter-Raquet

Nutzung von digitalen Medien zur niedrigschwelligen Ansprache von Zugewanderten und Geflüchteten

Schlagwort(e): Coronavirus, Geflüchtete, Gesundheitsförderung, Kommunikation, Medien

Die zunehmende Digitalisierung des privaten, öffentlichen und beruflichen Raums ist einer der Megatrends unseres Jahrzehnts. Eine zusätzliche Beschleunigung und Verstärkung erfährt dieser Trend durch die Coronapandemie. Bedingt durch das allgemeine Herunterfahren des öffentlichen Lebens, Kontaktbeschränkungen sowie die vorübergehende Schließung von Bildungseinrichtungen und weiten Teilen des Einzelhandels erfahren Streamingdienste, der Onlinehandel, digitale Lernplattformen sowie weitere internetbasierte Anwendungen starken Zulauf.

Die Digitalisierung vieler Lebensbereiche bringt viele Vorteile, aber auch neue Herausforderungen mit sich. So vereinfacht die Nutzung von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien die orts- sowie zeitunabhängige Kommunikation und schafft dadurch neue Möglichkeiten des Austauschs und der Kooperation. Zudem wird für viele Bevölkerungsgruppen der Zugang zu Konsumgütern, aber auch öffentlich bereitgestellten Leistungen wie Bildung oder Gesundheit erleichtert (Bertelsmann, 2017). Auf der anderen Seite stellen die damit einhergehende Fülle an Informationen, die Entgrenzung von privatem und beruflichem Leben sowie die mit digitaler Spaltung bezeichnete ungleiche Verteilung von Zugangsmöglichkeiten und technischen Ausstattungen große gesellschaftliche Herausforderungen dar (vgl. Rudolf, 2019).

Digitale Medien und Migration

Eine Analyse der Nutzergruppen von digitalen Medien zeigt, dass Menschen mit Einwanderungsgeschichte, innerhalb dieser Gruppe besonders die Frauen, überdurchschnittlich häufig Social-Media-Plattformen nutzen und sich dort in selbst organisierten Gruppen und Kanälen in ihrer Muttersprache austauschen (Stapf, 2019). Bei der Wahl der Themen gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Während Männer mit Einwanderungsgeschichte sich viel zu Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten informieren, sind es bei Frauen eher Themengebiete rund um Gesundheit und Kinder (Stapf, 2019). Darüber hinaus sind soziale Medien wichtig für den Kontakt zu Familienangehörigen in den Herkunftsländern (Paasch-Colberg & Trebbe, 2016, Kutscher & Kreß, 2015). Wird die Ausstattung von Menschen mit Einwanderungs- oder Fluchtgeschichte mit technischen Geräten betrachtet, fällt auf, dass besonders häufig das Smartphone genutzt wird (Stapf, 2019).

Aufsuchende Arbeit in sozialen Medien

Ein Ansatz, der sich proaktiv mit der zunehmenden Digitalisierung von Lebenswelten beschäftigt, ist die aufsuchende Arbeit in sozialen Medien. Verbreitet ist der Ansatz vor allem in der Jugendsozialarbeit und wird dort mit Begriffen wie „Digital Streetwork“, Online-Streetwork oder „Virtuelles Streetwork“ beschrieben (Dinar & Heyken, 2017). Bei diesem Ansatz wird nicht der physisch vorhandene öffentliche Raum, sondern das Internet mit seinen vielfältigen, sich ständig in Veränderung befindenden Kommunikationsräumen als Lebenswelt von Adressat*innenengruppen definiert. Dies können öffentliche Plattformen wie Facebook oder Instagramm, aber auch geschlossene Gruppen diverser Messengerdienste oder Internetseiten mit angegliederten privaten Chaträumen sein. So vielfältig wie die genutzten Plattformen sind auch die Handlungsfelder des „Digital Streetwork“. Ein Handlungsfeld ist die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte (MbE), wie das nachfolgende beschriebene Projekt Fem.OS zeigt.

Fem.OS

Das Projekt Fem.OS bietet Migrantinnen aus Drittstaaten eine aufsuchende Informations- und Beratungsarbeit in den sozialen Medien an. Diese juristisch geprüfte Beratung verfolgt das Ziel, die soziale und berufliche Integration zugewanderter Frauen zu fördern. In zehn Sprachen beraten die Fem.OS-Expertinnen datenschutzkonform zugewanderte Frauen zu Fragen hinsichtlich der Arbeitsmarktintegration und weiteren frauenspezifischen Themen. Im Rahmen einer ersten Bedarfserhebung von Mai 2020 bis Ende August 2020 waren die acht eingesetzten Beraterinnen in insgesamt 438 Kommunikationsorten auf Facebook, darunter 58 Frauengruppen mit insgesamt 6.298.190 Mitgliedern aktiv (Gouma & Salto, 2020). Fem.OS wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration gefördert und findet in Zusammenarbeit mit der Bundesagentur für Arbeit statt. Das Projekt endet am 30.06.2023.

Weitere Informationen: www.minor-kontor.de

Online-Beratung und Gruppenangebote

Beratung per Chat oder E-Mail wird bereits seit einigen Jahren von vielen Trägern erfolgreich angeboten. Da hierbei besonders gut die Anonymität der Ratsuchenden gewahrt werden kann, bewegen sich die Angebote thematisch häufig in Bereichen wie Krisenintervention oder Gewalt im häuslichen Umfeld. Eine neue inhaltliche und auch methodische Ausrichtung hat diese Form der Beratung durch die Coronapandemie erfahren. Aufgrund der Infektionsschutzmaßnahmen konnten in den vergangenen Monaten viele niedrigschwellige Angebote wie offene Beratung, Nachbarschaftstreffs oder Elterncafés nicht wie gewohnt stattfinden. In der Folge wurden Beratungsangebote telefonisch oder per Video durchgeführt, beiläufige Gespräche, die sonst der Kontaktpflege dienen, durch den Einsatz von Messangerdiensten ersetzt und offene Treffs in den digitalen Raum verlegt. Nachfolgend wird am Beispiel des Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen (NTFN) anschaulich gezeigt, wie die Transformation von analogen Angeboten der psychosozialen Unterstützung von Geflüchteten in den digitalen Raum gelingen kann.

Online-Angebote des Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen

Der Verein Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen (NTFN) e.V. setzt sich seit 2007 für traumatisierte oder psychisch erkrankte Geflüchtete ein. An sechs Standorten in Niedersachsen bietet ein multiprofessionelles Team Erstberatungen, Kriseninterventionen und stabilisierende Gespräche an. Zusätzlich gibt es offene kunsttherapeutische und ergotherapeutische Gruppenangebote. Aufgrund der Coronapandemie wurden im März 2020 die genannten Angebote eingestellt. Persönliche Gespräche vor Ort sind nur nach Anmeldung und unter Einhaltung der Abstandsregeln möglich. Bereits nach kurzer Zeit konnte eine mehrsprachige telefonische Beratung eingerichtet werden. Therapeutische Gespräche wurden über eine Streamingplattform per Videotelefonie angeboten und Gruppenangebote im Außenraum durchgeführt. Darüber hinaus wurden für Geflüchtete Videotutorials zum Umgang mit Panikattacken oder Schlafstörungen produziert und verschickt. Stand Juni 2020 nahmen über 500 Menschen eine telefonische Beratung in Anspruch (Wühle, 2021). Das NTFN wird u. a. von der Ärztekammer Niedersachsen (Bezirksstelle Hannover), Amnesty International, dem Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. und durch das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung gefördert.

Weitere Informationen: www.ntfn.de


Die Beratung per Telefon oder Video bietet die Möglichkeit, schnell und unkompliziert Sprachmittler*innen in Beratungsgespräche einzubinden. Bereits vor Corona gab es in diesem Bereich einige Angebote, die aber mit verhältnismäßig hohen Kosten verbunden waren. Da aufgrund der Schutzmaßnahmen Streamingdienste zunehmend genutzt werden, haben Anbieter*innen analoger Sprachmittlung auch den virtuellen Raum für sich erschlossen.

SprInt-digital

Das Akronym SprInt steht für Sprach- und Integrationsmittlung und beschreibt eine Form des Dolmetschens durch Muttersprachler*innen. Mit SprInt-digital wird die seit vielen Jahren bestehende Dienstleistung der Vermittlung von Dolmetscher*innen in analoge Gesprächssituationen in den virtuellen Raum verlagert. Seit 2019 können über die SprInt geG Sprachmittler*innen gebucht werden, die dann per Konferenzschaltung an Telefonaten oder an per Video geführten Gesprächen teilnehmen. Die Sprachmittler*innen können während der Geschäftszeiten ad hoc angefordert werden. Alternativ besteht die Möglichkeit, Einsätze im Vorhinein über die Internetseite zu buchen. Das Projekt wird durch Mittel aus dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der Europäischen Union gefördert.

Weitere Informationen: www.sprachundintegrationsmittler.org

Digitale Selbsthilfe

Die gesundheitliche Selbsthilfe lebt von persönlichen Kontakten im Rahmen von Gruppentreffen. Dementsprechend hart wurden in diesem Bereich die Einschränkungen durch die Coronapandemie erlebt. Viele der Aktiven versuchen den gewohnten Austausch durch Telefonate und digitale Medien zu ersetzen.

Die Sputniks

Die Sputniks e. V. ist eine Vereinigung russischsprachiger Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen in Deutschland. Mit 30 Selbsthilfegruppen, verteilt auf das gesamte Bundesgebiet, und 200 Vereinsmitgliedern ist der Verein nach eigener Einschätzung die größte migrantische Selbsthilfeorganisation in Deutschland (Dengler, 2020). Der Verein betreibt seit mehreren Jahren ehrenamtlich eine Austauschplattform im Internet, die aktuell stark frequentiert wird. Für die Adressat*innenengruppe relevante Informationen werden durch Peers ins Russische übersetzt und auf der Plattform veröffentlicht. Zudem werden über die Plattform zwei moderierte Treffen für Eltern angeboten. Videokonferenzen und telefonische Beratung ergänzen das Angebot.

Weitere Informationen: https://die-sputniks.de/

Ausblick

Die im Zusammenhang mit der Coronapandemie verstärkte Digitalisierung von Lebenswelten wird sich weiter fortsetzen. Auch wenn Beratungsgespräche, Psychotherapie und Gruppenangebote wieder in Präsenz stattfinden, wird das nicht zu einem völligen Verschwinden der digitalen Angebote führen. Vielmehr wird es zu einem Nebeneinander der verschiedenen Angebotstypen bis hin zu hybriden Lösungen – als synergetische Verknüpfung von digitalen und analogen Angeboten – kommen. Eine der großen Herausforderungen für die Zukunft wird das Schließen der digitalen Lücke sein. Es muss darum gehen, die Verfügbarkeit des Internets für alle Bevölkerungsgruppen zu verbessern, von der Digitalisierung abgeschnittene Gruppen mit technischen Geräten zu versorgen und die Medienkompetenz im Umgang mit sozialen Medien zu erhöhen. Parallel dazu muss die Weiterentwicklung der oftmals unter Druck entstandenen digitalen Angebote hin zu niedrigschwelligen Lösungen vorangetrieben werden.


Literatur

Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) (2017). Teilhabe in einer digitalisierten Welt. Digitalisierung in den Dienst der Gesellschaft stellen. Download:
https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/betriebliche-arbeitswelt-digitalisierung/projektnachrichten/die-auswirkungen-der-corona-krise-auf-die-arbeitswelt

Dengler, Wolfgang (2020). Migrantische Selbsthilfe – Argwohn und Ablehnung? Ein Erfahrungsbericht der Vereinigung russischsprachiger Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen in Deutschland „Die Sputniks e. V.“ In: Infodienst Migration und Gesundheit. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 02/2020 (BzGA). Download: https://www.infodienst.bzga.de/migration-flucht-und-gesundheit/im-fokus-gefluechtete/v/migrantische-selbsthilfe-argwohn-und-ablehnung/?fbclid=IwAR3fhhL07YtXpKMDnYL-n8Q1psLQE8G_c-Ocl0PEFIfH9EV5B4bRb9P5u8Y

Dinar, Christina & Heyken, Cornelia (2017). Digital Streetwork. Pädagogische Interventionen im Web 2.0. Berlin. Amadeu-Antonio-Stiftung. Download:
https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2018/08/digital_streetwork_web-1.pdf

Gouma, Vinda & Salto, Eliana (2020): Fem.OS – Aufsuchendes Orientierungs- und Beratungssystem in den sozialen Medien für Migrantinnen aus Drittstaaten. Berlin: Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung, 2020. Download: https://minor-kontor.de/wp-content/uploads/2020/12/Minor_Fem.OS_Aufbau_Beratungsarbeit_2020-1.pdf

Kutscher, Nadia & Kress, Lisa-Marie (2015). Internet ist gleich mit Essen
Empirische Studie zur Nutzung digitaler Medien durch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Deutsches Kinderhilfswerk. Download:
https://images.dkhw.de/fileadmin/Redaktion/1.1_Startseite/3_Nachrichten/Studie_Fluechtlingskinder-digitale_Medien/Studie_digitale_Medien_und_Fluechtlingskinder_Langversion.pdf?_ga=1.117219590.1486726592.1450293307

Paasch-Colberg, Sünje & Trebbe Joachim (2016). Migration, Integration und Medien. Bundeszentrale für politische Bildung. Download: https://www.bpb.de/gesellschaft/medien-und-sport/medienpolitik/172752/migration-integration-und-medien

Rudolph, Steffen (2019). Digitale Medien, Partizipation und Ungleichheit. Eine Studie zum sozialen Gebrauch des Internets. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Stapf, Tobias (2019). Migration/Digital. Die Bedeutung der Sozialen Medien für Ankommen, Orientierung und Teilhabe von Neuzugewanderten in Deutschland. Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung. Berlin: Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung. Download:
https://minor-kontor.de/wp-content/uploads/2020/09/NiB_Migration_Digital_Text_Web_20-09-29.pdf

Wühle, Armin (2021). Digitale Angebote des Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen. Vortrag im Rahmen des Online-Seminars „Wie können digitale Medien zur niedrigschwelligen Ansprache von Zugewanderten und Geflüchteten genutzt werden?“ am 25. Februar 2021. Download: https://gesundheit-nds.de/index.php/veranstaltungen/dokumentationen/1600-wie-koennen-digitale-medien-von-zugewanderten-und-gefluechteten-genutzt-werden


Thi Tuyet-Trinh Nguyen studiert Bildungswissenschaften an der Leibniz Universität Hannover und ist studentische Mitarbeiterin der LVG & AFS. Marcus Wächter-Raquet ist Dipl. Pflegewirt und arbeitet als Fachreferent im Arbeitsbereich Migration und Gesundheit in der LVG & AFS.

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