Susanna Saxl-Reisen

Menschen mit Demenz und Migrationshintergrund

Schwerpunktthemen: Alter, Demenz, Geflüchtete, Gesundheitsversorgung

Genaue Zahlen dazu, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund, die eine Demenzerkrankung haben, in Deutschland leben, gibt es nicht. Konservativen Schätzungen zufolge sind es aktuell etwa 158.000 Betroffene (vgl. Blotenberg & Thyrian, 2024, S. 4). Aufgrund des demografischen Wandels und der damit wachsenden Zahl von älteren Migrantinnen und Migranten in Deutschland ist davon auszugehen, dass Demenzerkrankungen in dieser Bevölkerungsgruppe in den nächsten Jahren deutlich zunehmen werden.

Noch schwerer zu beziffern ist die Zahl der Menschen, die seit 2022 aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet und von einer Demenz betroffen sind. Im November 2024 lebten laut Statistischem Bundesamt 1.265.527 ukrainische Geflüchtete in Deutschland (Destatis, 2025). 14 Prozent bzw. 177.173 davon waren 60 Jahre oder älter. Genauere Zahlen zur Altersdifferenzierung liegen nicht vor, deshalb lassen sich Demenz-Prävalenzraten auf diese Gruppe nicht anwenden. Dennoch gehen wir davon aus, dass zu den aus der Ukraine geflüchteten Menschen auch mehrere Tausend mit einer Demenzerkrankung gehören.

Menschen mit einer Demenz sind durch die Erkrankung häufig verunsichert und fühlen sich unverstanden. Bei Menschen mit Migrationshintergrund sind diese Gefühle oft noch deutlich stärker ausgeprägt. Das Ankommen in einem für sie fremden Land ist häufig begleitet von Gefühlen der Unsicherheit und Fremdheit. Durch die Demenz verstärken sich diese Gefühle, man spricht von einer „doppelten Fremdheit“.

Weitere Herausforderungen kommen hinzu:

Die deutsche Sprache geht zunehmend verloren

Bei einer Demenz lässt das Kurzzeitgedächtnis nach, Erlebnisse, die länger zurückliegen, werden dagegen besser erinnert. Die Muttersprache ist im Langzeitgedächtnis gespeichert und bleibt oft lange erhalten. Der Verlust der deutschen Sprache bei demenziell erkrankten Migrantinnen und Migranten führt zu Kommunikationsproblemen und Schwierigkeiten im Kontakt mit der Außenwelt.

Ein anderes Verständnis von Krankheit, insbesondere Demenz

Wie vieles andere ist auch das Verständnis von Krankheiten kulturell bedingt. Die mit einer Demenz einhergehenden Persönlichkeitsveränderungen und „seltsamen“ Verhaltensweisen sind sowohl bei Betroffenen als auch bei Angehörigen mit viel Unbehagen und Scham verbunden. Gleichzeitig werden Erklärungen für das Verhalten gesucht. Nicht selten wird eine Krankheit dann als Schicksal oder – von gläubigen Menschen – als Strafe Gottes eingeordnet. Ein Verständnis dafür, dass die Symptome der Demenz (Gedächtnisprobleme, Sprachschwierigkeiten, Persönlichkeitsveränderungen u. a.) eine Folge der Erkrankung des Gehirns sind, kann allen Beteiligten helfen und den Umgang damit erleichtern.

Zu späte und fehlerhafte Diagnose

Menschen mit einem Migrationshintergrund erhalten oft erst in fortgeschrittenem Stadium eine Demenz-Diagnose – einerseits, weil der Zugang zur medizinischen Versorgung erschwert ist, andererseits, weil die in Deutschland gängigen Demenztests für sie ungeeignet sind. Die Tests wurden für deutsche Personen entwickelt, ihre Ergebnisse hängen stark von sprachlichen Fähigkeiten und (guter) Kenntnis der deutschen Kultur ab. Es gibt mittlerweile zwar auch eine Auswahl an kultursensitiven und mehrsprachigen Testverfahren (vgl. DGPPN, 2025), in der Praxis ist es aber häufig schwierig, Fachärztinnen oder -ärzte zu finden, die mit der Anwendung dieser Testverfahren vertraut sind.

Heimweh als zusätzliche Belastung

Viele Menschen, die zum Arbeiten nach Deutschland gekommen sind, pendeln im Ruhestand zwischen Deutschland und ihrem Herkunftsland. Die Bindung an die Heimat ist einerseits stark, andererseits leben die Kinder meistens in Deutschland und die Gesundheitsversorgung ist hier oftmals besser. Durch eine Demenzerkrankung werden Ortswechsel aber zu einem Problem. Die Erkrankten können sich nicht mehr orientieren, werden ängstlich und unruhig. Für den gesunden Partner oder die gesunde Partnerin bedeutet dies oftmals, ebenfalls nicht mehr in die Heimat reisen zu können oder nur noch sehr begrenzt. Dann kommt zur Belastung durch die Krankheit auch noch die große Belastung durch das Heimweh hinzu.

Es gibt zu wenig kultursensible Angebote

Angebote für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen orientieren sich in der Regel kaum an den spezifischen Bedürfnissen älterer Migrantinnen und Migranten. Das zeigt sich u. a. in der Raumgestaltung, in der Musik, den Geschichten oder dem Beschäftigungsmaterial, das zum Einsatz kommt. Bei der Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz sind biografische Informationen sehr wichtig: Pflegekräfte müssen etwas über die Kindheit, die Gewohnheiten und den kulturellen Kontext einer Person wissen, um sie angemessen betreuen zu können. Auch wenn Altenpflegeeinrichtungen zunehmend Personal mit interkultureller Kompetenz bzw. eigenem Migrationshintergrund suchen, bleibt hier noch viel zu tun.

Es fehlt an Informationen

Menschen mit Demenz werden über die längste Zeit der Krankheit von ihren Angehörigen gepflegt. Dies gilt für Menschen mit Migrationshintergrund in besonderem Maße. Fremde Hilfe wird selten angenommen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Häufig wird von den Kindern erwartet, dass sie die Eltern pflegen. Doch vielfach sind auch die Hürden zu hoch. Die Alzheimer-Gesellschaften in Deutschland beispielsweise bieten als Selbsthilfeorganisationen umfassende Beratung zum Thema Demenz an. Ihre Klientel erreichen sie überwiegend durch die Präsenz im Internet, das Verteilen von Flyern oder durch Informationsstände. Um Menschen mit Migrationshintergrund zu erreichen, müssen andere Strategien genutzt und die Informationen direkt in die migrantischen Communitys gebracht werden, am besten mithilfe von Schlüsselpersonen. Auch mehrsprachige Angebote in sozialen Medien können hilfreich sein.

Wie ist die Situation für Geflüchtete?

Schon Menschen, die bereits lange in Deutschland leben und Kinder oder gar Enkel haben, die hier aufgewachsen sind, haben mit höheren Hürden zu kämpfen, um Unterstützung bei Demenz zu bekommen, als Menschen ohne Migrationshintergrund. Viel schwerer ist dies noch für Menschen, die erst vor kurzem bei uns angekommen und mit dem deutschen (Gesundheits-)System völlig unvertraut sind. Das trifft zum Beispiel auf diejenigen zu, die vor dem Krieg aus der Ukraine geflüchtet sind. Tatsächlich tauchen sie in der Beratung bei den Alzheimer-Gesellschaften so gut wie gar nicht auf. In Einzelfällen gibt es einen Kontakt durch die Vermittlung von Beratungsstellen für Geflüchtete. Allerdings ist die Belastung durch die Situation und die Lebensumstände in diesen Fällen oftmals so groß, dass die Bewältigung der Demenz gar nicht das vordringliche Problem darstellt. Vielmehr geht es beispielsweise darum, mithilfe der Bescheinigung einer Fachstelle die Möglichkeit zu bekommen, aus einer Erstaufnahmestätte zeitnah in eine Wohnung überzusiedeln.

Unterstützung vonseiten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft

Muttersprachliche Informationen sind ein wichtiges Element für das Verständnis von Demenzerkrankungen und den Umgang mit den Erkrankten. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft bietet auf ihrer Internetseite www.demenz-und-migration.de Informationen und Erklärfilme zum Thema in acht Fremdsprachen (Türkisch, Arabisch, Russisch, Italienisch, Rumänisch, Polnisch, Vietnamesisch und Englisch). Darüber hinaus enthält die Seite eine Netzwerkkarte, auf der Beratungs- und Unterstützungsangebote in verschiedenen Sprachen zu finden sind. Ein weiterer Teil der Webseite richtet sich an Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die ihre Einrichtung kultursensibel öffnen wollen.

Informationen zu Demenz in rund 50 weiteren Sprachen gibt es auf der Webseite der australischen Alzheimer-Gesellschaft: https://www.dementia.org.au/languages.

Die ukrainische Organisation Nezabutni UNITED bietet darüber hinaus Menschen mit Demenz aus der Ukraine online Unterstützung und psychologische Beratung: https://united.nezabutni.org/for-foreigners/.  

Literatur

Blotenberg, I. & Thyrian, J.R. (2024). Infoblatt 1 "Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen". Berlin: Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V. Zugriff am 24.02.2025 unter https://www.deutsche-alzheimer.de/fileadmin/Alz/pdf/factsheets/infoblatt1_haeufigkeit_demenzerkrankungen_dalzg.pdf

Destatis (2025). Bevölkerung. Starker Zuwachs an ukrainischen Staatsbürgern seit Ende Februar 2022. Zugriff am 3. März 2025 unter https://www.destatis.de/DE/Im-Fokus/Ukraine/Gesellschaft/_inhalt.html 

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) (2025). Demenzdiagnostik für Menschen mit Migrationshintergrund verbessern. Zugriff am 3. März 2025 unter https://www.dgppn.de/schwerpunkte/versorgung/nationale-demenzstrategie/Kultursensible-Demenzdiagnostik.html

Autorin

Susanna Saxl-Reisen, Stellvertretende Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz

Kontakt:

presse(at)deutsche-alzheimer.de


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