Meike Nitschke-Janssen

Gesundheitliche Auswirkungen der Pandemiemaßnahmen auf geflüchtete Kinder

Schlagwort(e): Coronavirus, Geflüchtete, Gesundheitsversorgung, Kinder, Unterkünfte

Geflüchtete Kinder und Jugendliche befinden sich in einer exponierten Situation, die sich auf ihre Vergangenheit im Heimatland, ihre Fluchtbiografie, ihre aktuellen Lebensumstände und auf ihre ungewisse, von vielfältigen geopolitischen bis asylrechtlichen Einflüssen abhängige Zukunft bezieht. Die subjektiven Verunsicherungen und konkreten gesellschaftlichen Veränderungen im Rahmen der SARS-2-Pandemie treffen insofern bei Familien mit Fluchthintergrund auf eine bereits akzentuierte Konstellation von Risiko- und Schutzfaktoren. Der folgende Artikel diskutiert vor diesem Hintergrund relevante Einflussfaktoren auf die gesundheitliche Situation nach Deutschland geflüchteter Kinder im Zuge der Pandemiemaßnahmen.

Zur gesundheitlichen Situation geflüchteter Kinder
Aktuelle Studien zur physischen und psychischen Gesundheitssituation geflüchteter Kinder und Jugendlicher in Deutschland fehlen. Gavranidou et al. beschrieben im Jahr 2008, dass Kinder nach Flucht zu 50 Prozent Belastungssymptome entwickeln (Gavranidou, Niemiec, Magg & Rosner, 2008). Jedes fünfte geflüchtete Kind weise eine posttraumatische Belastungsstörung (posttraumatic stress disorder: PTSD) auf (Ruf, Schauer & Elbert, 2010), die mit Schlaf- und Konzentrationsstörungen, erhöhter Wachsamkeit und Niedergestimmtheit begleitet ist. Von einer PTSD z. B. sind Kinder mit Fluchterfahrung bis zu 20-fach häufiger betroffen als residente Kinder.

Da die physische und psychische Entwicklung von Kindern eng mit der Verfassung ihrer Eltern verbunden ist, kommt deren Gesundheitszustand eine besondere Bedeutung zu. Körperliche Beschwerden resultieren meist aus einer mangelhaften medizinischen Versorgung im Heimatland und auf der Flucht und ziehen eine hohe Risikokonstellation (z. B. für Diabetes mellitus, psychosomatische Störungen) nach sich. Diese Risiken führen zu einer erhöhten Vulnerabilität für symptomatische und schwere Krankheitsverläufe bei einer SARS-2-Infektion, was Kinder angesichts der breiten öffentlichen Aufklärung über gesundheitliche Risikofaktoren für Covid-19 verunsichert. Gleichzeitig gibt es Einschränkungen hinsichtlich der Gesundheitsversorgung (Asylbewerberleistungsgesetz): keine Behandlung chronischer Erkrankungen (BAfF, 2019, S. 35; Wiss. Beirat für Familienfragen, 2017, S. 24), fehlende elektronische Gesundheitskarte (Wiss. Beirat für Familienfragen, 2017, S. 15) und langwierige Kostenübernahmeklärungsprozesse. Dies lässt Ärzt*innen zusätzlich zur Kultur- und Sprachbarriere davor zurückschrecken, Kinder und Familien mit Fluchthintergrund zu behandeln (UNICEF, 2017b, S. 34).

Die physische Gesundheit wird maßgeblich von der Wohnsituation beeinflusst, die die Rahmenbedingungen für Schutz, Ernährung, Körperhygiene und Regeneration vorgibt. Geflüchtete leben in Deutschland häufig in Camps und Sammelunterkünften auf engem Raum, in denen Sanitäranlagen und Kochbereiche mit anderen geteilt werden müssen, begleitet von Lärm und Geruch vieler unfreiwillig zusammenlebender Menschen. Geflüchtete Kinder leben so im öffentlichen Raum, in dem häufige, behördlich angeordnete Wohnortwechsel (Batista Pinto Wiese & Burhorst, 2007, S. 597; Ajdukovic & Ajdukovic, 1998, S. 187) oder langer Verbleib im Provisorium Erstaufnahme (Lechner & Huber, 2017, S. 57 ff.; AGJ, 2015, S. 8.) Eltern mit Anpassungsleistungen beschäftigt halten. Ressourcen für die Sicherstellung psychischer wie physischer Gesundheit bleiben dabei oft ungewollt auf der Strecke.

Folgen der Pandemiemaßnahmen für geflüchtete Kinder und Jugendliche
Die seit März 2020 verabschiedeten Maßnahmen zur Begrenzung der Pandemie haben Kinder in Deutschland sehr unterschiedlich getroffen. Während gut situierte Familien mitunter die Zeit genossen („Jeder Tag ist wie ein Sonntag“), verfügen vulnerable Familien über nur wenig abfedernde Ressourcen (ZPI, 2020), um die in den privaten Raum verschobenen Verantwortlichkeiten zu bewältigen. Durch die Schließung der Kitas sahen sich Eltern mit der anstrengenden 24/7-Betreuung konfrontiert, die ein hohes Maß an pflegerischen, steuernden, Anregungen gebenden und aufsichtsführenden Elternfunktionen erfordert. Für Kleinkinder geflüchteter Familien ist dies von besonderer Relevanz, da ihre Eltern oft an Stressfolgestörungen (Bundespsychotherapeutenkammer Standpunkt, 2015) leiden und auf Entlastung angewiesen sind. Zudem stehen Eltern in Sammelunterkünften nur 7,5 m² pro Person zur Verfügung, die weder ausreichend Platz für kindlichen Bewegungsdrang noch für erforderliche Ruhe- und Rückzugsräume gewähren. Auch junge Schulkinder sind auf Strukturierung vor allem bei Schulanforderungen angewiesen; sie benötigen Ausgleichsflächen zum Spielen und Ruhezonen, um das Erlebte zu verarbeiten. Insbesondere für Eltern, für die der Weg aus den Sammelunterkünften über Integrationsanstrengungen und Zugang zum Arbeitsmarkt führt, bedeutet die lockdownbedingte wirtschaftliche Verunsicherung der wenigen infrage kommenden Arbeitgeber eine Fortsetzung der wirtschaftlichen Abhängigkeit von staatlichen Leistungen, die im Hinblick auf die seelische Entwicklung von Kindern einen Risikofaktor darstellt.

Gesundheitliche Auswirkungen der Pandemiemaßnahmen auf geflüchtete Kinder
Kinder sind weniger von den direkten Auswirkungen der COVID-19-Erkrankung betroffen als von den Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit (Merckx, Labrecque & Kaufman, 2020, S. 553). Welche gesundheitlichen Auswirkungen dies hat, wird in einer wachsenden Zahl nationaler und internationaler Studien untersucht.

Unter klinischer Beobachtung ergeben sich direkte und indirekte gesundheitliche Folgen für geflüchtete Kinder. Zu den direkten Folgen gehören Auswirkungen des Lockdowns auf die psychischen Verarbeitungsmechanismen, die Aufrechterhaltung von Resilienzfaktoren sowie auf gegebene motorische, sprachliche, psychosoziale und kognitive Entwicklungsbedingungen. Indirekte Folgen für die Gesundheit geflüchteter Kinder resultieren aus Veränderungen im Erleben der Eltern und deren Bewältigungsstrategien sowie aus Veränderungen der öffentlichen Rahmenbedingungen für Bildung, Gesundheitsversorgung und Integration, auf die an dieser Stelle nicht vertiefend eingegangen werden kann.

Direkte Folgen der Pandemiemaßnahmen auf die Gesundheit geflüchteter Kinder

1. Auswirkungen des Lockdowns
Der Lockdown der Monate März bis Mai 2020, in dem das Social Distancing den Verlust regulärer Möglichkeiten positiver und bestärkender sozialer Rückmeldungen zur Folge hatte, war bei vielen geflüchteten Kindern und Jugendlichen von einem Gefühl des Abgeschnittenseins verbunden („Man hat mich vergessen“, 14-jähriger Iraki). Eine Studie des deutschen Jugendinstituts mit residenten Kindern ergab, dass 27 Prozent der befragten Eltern Einsamkeitsgefühle ihrer Kinder bemerkten (Deutsches Jugendinstitut München, 2020). Bei geflüchteten Kindern, die erst kurze Zeit Zugang zu ihren Peers hatten, dürften diese Zahlen höher ausfallen. Die „Young Minds“-Befragung im März 2020 in Großbritannien ergab bei 51 Prozent der Jugendlichen (13 bis 25 Jahre) eine subjektive Verschlechterung der psychischen Gesundheit (YoungMinds, 2020). Auf ähnliche Zahlen kam eine bundesweite Forschungsgruppe, die die psychische Gesundheit, die Lebensqualität und das Gesundheitsverhalten erfasste (Pressemitteilung UKE vom 10.07.2020). Dieser im Juni 2020 deutschlandweit durchgeführten Studie zufolge fühlten sich 71 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen seelisch belastet (vorher: 30 Prozent). Ursächlich seien oft als extrem empfundene Probleme mit dem Schulstoff bei fehlendem Ausgleich und Austausch durch Freundschaften. Demgegenüber fehlte es geflüchteten Kindern häufig grundlegend an der technischen Ausstattung für das Homeschooling („Wir haben in der Unterkunft gar kein WLAN“, 10-Jährige aus Syrien). Für sie dürfte der Abbruch ihrer gerade wiederaufgenommenen Bildungskarriere mit den frisch geknüpften sozialen Beziehungen und der Wegfall stabilisierender Rückmeldungen noch intensiver ins Gewicht fallen.

Zusätzlich konnte die Arbeitsgruppe eine Zunahme des Risikos für psychische Störungen von rund 18 auf 31 Prozent während des Lockdowns identifizieren, die sie mit dem vermehrten Erleben von psychischen und psychosomatischen Problemen in Verbindung brachte. So gaben 24 Prozent Symptome von Hyperaktivität an, 21 Prozent emotionale Probleme und 19 Prozent Verhaltensprobleme. An psychosomatischen Beschwerden wurde von 54 Prozent befragter residenter Kinder Gereiztheit, von 44 Prozent Einschlafprobleme und von 40 bzw. 31 Prozent Kopf- und Bauchschmerzen genannt. Litten geflüchtete Kinder schon vor dem Corona-Lockdown 20-mal häufiger unter einer posttraumatischen Belastungsstörung bzw. Depression, zu der Gereiztheit, Schlafstörungen sowie somatische Beschwerden gehören, als Kinder ohne Fluchtgeschichte, ist eine nochmalige Akzentuierung der vorbestehenden Symptome zu erwarten. Tatsächlich gehören Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Bildungsabschluss bzw. mit Migrationshintergrund zu der im Lockdown am stärksten von psychischen Störungsbildern betroffenen Gruppe.

2. Anhaltende Quarantäneregelungen
Insbesondere Kinder mit motorischen, sprachlichen und kognitiven Entwicklungsrückständen durch kriegs- und fluchtbedingte gesundheitliche Versorgungsdefizite sind mehr als andere auf einen kontinuierlichen therapeutischen Input angewiesen. Sie sehen sich durch die anhaltenden Quarantäneregelungen mit der damit verbundenen Reduktion der Förderungsintensität mit einer fortschreitenden Einwicklungsdiskrepanz im Vergleich zu Gleichaltrigen konfrontiert. Dies führt häufig sekundär und kulturunabhängig zu vermehrten Selbstwertregulationsschwierigkeiten und externalisierenden Verhaltensstörungen, insbesondere bei Entwicklungsrückständen im Spracherwerb. Potenzierend wirken sich psychische Belastungen negativ auf den Spracherwerb und die Integration aus (Clayton, 2019). Für Kinder und Jugendliche, die in beengter öffentlich-rechtlicher Unterbringung leben, in denen sie nicht nur einer erhöhten Ansteckungsgefahr, sondern auch einer erhöhten Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sind, mit positiv auf SARS-2 getesteten Menschen in Berührung und folglich in Quarantäne zu kommen, bedeutet dies sowohl eine Gefährdung der Integrations-, Entwicklungs- und Therapieerfolge als auch ein Fortschreiten der sprachlichen, motorischen und psychosozialen Mangelförderung.

Literatur:

Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (2015). Kind ist Kind! – Umsetzung der Kinderrechte für Kinder und Jugendliche nach ihrer Flucht. Positionspapier. Berlin.

Ajdukovic, M. & Ajdukovic, D. (1998). Impact of displacement on the psychological well-being of refugee children. In: International Review of Psychiatry, 10.

Batista Pinto Wiese, E. & Burhorst, I. (2007). The Mental Health of Asylum-seeking and Refugee Children and Adolescents Attending a Clinic in the Netherlands. In: Transcultural Psychiatry, 44, pp. 596–613.

Bundespsychotherapeutenkammer Standpunkt: psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen, September 2015, Zugriff am 21.07.2020 unter www.bptk.de

Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – BAfF e.V. (2019). Traumasensibler und empowernder Umgang mit Geflüchteten. Ein Praxisleitfaden. Berlin.

Clayton, M. (2019). The Impact of PTSD on Refugee Language Learners. In progress.

Deutsches Jugendinstitut München (2020). Wie sich die Corona-Krise auf Kinder und Eltern auswirkt. Zugriff am 08.06.2020 unter https://www.dji.de/veroeffentlichungen/aktuelles/news/article/758-wie-sich-die-corona-krise-auf-kinder-und-eltern-auswirkt.htlm

Gavranidou, M., Niemiec, B., Magg, B. & Rosner, R. (2008). Traumatische Erfahrungen, aktuelle Lebensbedingungen im Exil und psychische Belastung junger Flüchtlinge. Kindheit und Entwicklung, 17(4), 224–231.

Lechner, C. & Huber, A. (2017). Ankommen nach der Flucht. Die Sicht begleiteter und unbegleiteter junger Geflüchteter auf ihre Lebenslagen in Deutschland. München: Deutsches Jugendinstitut e. V.

Merckx J, Labrecque JA, Kaufman JS: Transmission of SARS-CoV-2 by children. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 553-60. DOI: 10.3238/aerztebl2020.0553

Pressemitteilung UKE (10.07.2020). Psychische Gesundheit von Kindern hat sich während der Corona-Pandemie verschlechtert. Zugriff am 02.09.2020 unter https://www.uke.de/allgemein/presse/pressemitteilungen/detailseite_96962.html

Ruf, M., Schauer, M. & Elbert, T. (2010). Prävalenz von traumatischen Stresserfahrungen und seelischen Erkrankungen bei in Deutschland lebenden Kindern von Asylbewerbern. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 39(3), 151–160.

United Nations Children’s Fund (UNICEF) (2017b). Kindheit im Wartezustand. Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland. Berlin: UNICEF.

Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2017). Aus Kriegsgebieten geflüchtete Familien und ihre Kinder: Entwicklungsrisiken, Behandlungsangebote, Versorgungsdefizite. Erstellt von Fegert, J. M., Diehl, C., Leyendecker B. & Hahlweg K., Berlin.

YoungMinds (2020) Coronavirus: Impact on young people with mental health needs. Zugriff am 02.09.2020 unter https://youngminds.org.uk/media/3708/coronavirus-report_march2020.pdf

ZPI (2020). Stellungnahme des Zentrums für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI) an der Universität Bielefeld (2020): Sozial vulnerable Kinder und Jugendliche müssen in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Zugriff am 02.09.2020 unter https://www.uni-bielefeld.de/erziehungswissenschaft/izgk/Sozial_vulnerable_Kinder.html

Dr. Meike Nitschke-Janssen arbeitet in der Gemeinschaftspraxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Zweigstelle für transkulturelle und Migrationspsychiatrie des Kindes- und Jugendalters in Hamburg und ist in der Kinder- und jugendpsychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung geflüchteter und migrierter Kinder, Jugendlicher und ihrer Familien im Rahmen von Vor-Ort-Sprechstunden in Erstaufnahmecamps für Geflüchtete tätig.

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