Jutta Lindert, Ingo Schäfer

Flucht und substanzbezogene Störungen

Schlagwort(e): Forschung, Geflüchtete, Sucht

Zusammenhänge zwischen substanzbezogenen Störungen und Flucht sind noch immer ein wenig erforschtes Thema auf der internationalen und nationalen Ebene. Flucht ist eine „nicht freiwillige Migration“: Sie wurde durch die Internationale Organisation für Migration (IOM) als Migration mit Elementen von Zwang sowie Bedrohungen von Leben und Lebensbedingungen aufgrund von Umwelt- oder von Menschen gemachten Bedingungen definiert (International Organisation for Migration, 2004). Hauptgründe nicht freiwilliger Migration sind daher Konflikte (Krieg und Bürgerkrieg) sowie Katastrophen jeder Art. Die Zahl Geflüchteter im Jahr 2020 liegt weltweit trotz der COVID-19-Pandemie bei 82,4 Millionen (Global Trends Report, 2021) und damit um 4 % höher als Ende 2019 (79,5 Millionen). Die Zahl Geflüchteter in Deutschland liegt bei rund 1,4 Millionen Menschen, etwa ein Drittel von ihnen sind Minderjährige (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2020). Zu dieser Gruppe gehören Asylberechtigte, Geflüchtete nach der Genfer Flüchtlingskonvention, subsidiär Schutzberechtigte, Menschen, für die ein Abschiebeverbot gilt, und Menschen, die Schutz aus unterschiedlichen anderen Gründen bekommen haben. Zudem lebten im vergangenen Jahr rund 208.000 Asylbewerber*innen und rund 180.000 „ausweispflichtige“ Personen in Deutschland. Damit lebten rund 1, 8 Millionen Menschen, die nicht aufgrund freiwilliger Migration ihr Herkunftsland verlassen haben, in Deutschland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2020). Diese werden im weiteren Verlauf des Artikels als „Geflüchtete“ bezeichnet. Die Hauptherkunftsländer waren Syrien, Afghanistan und der Irak.

Die gesundheitliche Lage der Geflüchteten unterscheidet sich sowohl bedingt durch individuelle Faktoren, aber auch entsprechend der gesundheitlichen epidemiologischen Lage im Herkunftsland sowie der Zugangsmöglichkeiten zu Hilfesystemen vor, während und nach der Flucht. Zudem kann Flucht eine Vielzahl von gesundheitlichen Folgen haben, die sich über den Prozess der Flucht (vor, während, unmittelbar nach oder längerfristig nach der Flucht) verändern. Zusätzlich sind diese Faktoren lebensalter- und genderspezifisch unterschiedlich ausgeprägt.

Konsum psychoaktiver Substanzen

Psychoaktive Substanzen sind Substanzen, die psychische Prozesse wie Wahrnehmung, Bewusstsein, Denken und Emotionen verändern. Der riskante und missbräuchliche Konsum von Alkohol und anderen psychotropen Substanzen ist mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität assoziiert. 2019 waren Alkohol- und Substanzmissbrauch weltweit sehr verbreitet, geschätzt waren ca. 35 Millionen Menschen davon betroffen (United Nations Office on Drugs and Crime, World Drug Report, 2019). Allein Alkoholkonsum ist verantwortlich für jährlich ca. drei Millionen Todesfälle, 7,1 % der Krankheitslast von schädlichem Alkoholkonsum liegt bei Männern und 2,2 % bei Frauen. 

Substanzmissbrauch ist nicht nur weltweit verbreitet, sondern es wird derzeit ein Anstieg substanzbezogener Störungen insbesondere in den sich entwickelnden Ländern berichtet. So zeigte sich 2020 ein Anstieg von Opioiden in afrikanischen Ländern und in Asien, aber auch in Europa und Nordamerika (UNODOC – United Nations Office on Drugs and Crime, 2020). Während der COVID-Pandemie seit Beginn 2019 wurden die bisherigen Entwicklungen des Substanzkonsums und der substanzbezogenen Störungen jedoch weltweit unterbrochen. Es zeigen sich daher seit der Pandemie veränderte Trends mit einem Anstieg des Konsums „neuer“ psychoaktiver Substanzen und einer Tendenz zur Nutzung von Substanzen – und damit auch von substanzbezogenen Störungen –, entstanden aus einer Situation, in der Menschen pandemiebedingt allein und nicht in sozialen Settings waren (Rinaldi, Bersani, Marinelli & Zaami, 2020).

Flucht und substanzbezogene Störungen

Bisher gibt es nur wenige Studien zu substanzbezogenen Störungen bei Geflüchteten. Die meisten bisher verfügbaren Studien zu diesem Thema sind Studien in entwickelten Ländern, obwohl ca. 80 % aller Geflüchteten in sich entwickelnden Ländern leben (low and middle income countries – LMIC). So hat ein systematischer Review zu Substanzmissbrauch mit insgesamt 63 Studien 17 Studien (27 %) in LMICs identifiziert. Diese Studien zeigten Prävalenzraten von Substanzmissbrauch von 17–36 % bei Geflüchteten, die in Flüchtlingslagern lebten, und 4–7 % bei Geflüchteten, die nicht in Flüchtlingslagern lebten. Die meisten dieser Studien wiederum fokussieren auf Alkoholgebrauch und Alkoholmissbrauch (Orsolini et al., 2020).

Die bisherigen Studien zeigen jedoch eine heterogene Datenlage (Horyniak, Melo, Farrell, Ojeda, & Strathdee, 2016). In Studien, die validierte Erfassungsinstrumente nutzten, wurden Prävalenzraten von Substanzmissbrauch ohne Alkohol von 4–36 % berichtet, von Alkoholmissbrauch von <1–42 %. Beispielsweise wurden Raten von Substanzmissbrauch von 36 % bei Geflüchteten in Thailand aus Burma und von 32 % bei männlichen Geflüchteten in Flüchtlingslagern in Kenia, Liberia, Thailand und Uganda berichtet. In einer anderen Studie aus Uganda wurde hingegen eine Prävalenzrate von 13 % festgestellt. Bei einer Gruppe von Geflüchteten aus dem Kosovo lagen die Prävalenzraten bei 56 %, wobei es sich ausschließlich um junge Erwachsene handelte. In Bezug auf andere Substanzen als Alkohol (u. a. Khat, Cannabis, Amphetamine) wurde eine Rate von 69 % bei Geflüchteten in Pakistan aus Afghanistan berichtet (Spiegel, Checchi, Colombo & Paik, 2010).

Risikofaktoren für Substanzmissbrauch

Geflüchtete sind aufgrund einer Reihe von Faktoren besonders vulnerabel für psychische Störungen, etwa Erfahrungen von Verlust wie die Trennung von Familienangehörigen. Hinzu kommen potenzielle Risikofaktoren wie demografische Faktoren, traumatische Lebensereignisse sowie Faktoren des Versorgungssystems, etwa Zugangsmöglichkeiten (Singh & Hiatt, 2006).

Demografische Risikofaktoren sind Alter (Jugendliche und junge Erwachsene haben ein höheres Risiko), Gender (männlich: höheres Risiko), Zivilstatus (Unverheiratete haben ein höheres Risiko) sowie Bildung (niedrige Bildung ist höheres Risiko). Es lassen sich altersspezifisch Gruppen mit erhöhtem Substanzkonsum identifizieren: Jugendliche und junge Erwachsene (Alter 25–34 Jahre) bildeten die Bevölkerungsgruppe, die weltweit am häufigsten Substanzen konsumiert. Ebenso sind niedrige Bildung mit niedrigem sozioökonomischem Status sowie Wohnort in ländlichen Regionen Risikofaktoren für Substanzmissbrauch. Substanzmissbrauch bei Frauen scheint nach bisher vorliegenden Daten geringer zu sein als der bei Männern (Toole & Waldman, 1997; Hadgkiss & Renzaho, 2014).

Traumatische Lebensereignisse sind bei Geflüchteten häufig. Bisherige Studien liefern Hinweise, dass traumatische Lebensereignisse mit psychischen Störungen bei Menschen in der Allgemeinbevölkerung und bei Geflüchteten (insbesondere Depressionen und die Posttraumatische Belastungsstörung) assoziiert sind. Lebensereignisse bei Geflüchteten können Ereignisse vor, während und nach der Flucht einschließen (u. a. Verlust von Menschen und Lebensmöglichkeiten, Gewalt, Folter und Trennung von Familienangehörigen). Schätzungen der Bundespsychotherapeutenkammer gingen davon aus, dass ca. 40–50 % der Geflüchteten unter einer Traumafolgestörung leiden. Nach der Flucht kann zudem als traumatisches Ereignis Diskriminierung und Ausgrenzung im Zufluchtsland auftreten. So zeigte ein systematischer Review, der die gesundheitlichen Folgen von Diskriminierung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen untersuchte, einen Zusammenhang zwischen Diskriminierung und Substanzmissbrauch (Viruell-Fuentes, Miranda & Abdulrahim, 2012).

Die Selbstmedikation psychischer Belastungen mit psychotropen Substanzen ist ein generelles Phänomen und Zusammenhänge zwischen Traumatisierungen und Substanzmissbrauch wurden auch bei Geflüchteten wiederholt berichtet (z. B. Lindert, Neuendorf, Natan & Schäfer, 2021). Ein weiterer Faktor bei der Entstehung und beim Verlauf von Substanzkonsumstörungen sind Faktoren des Versorgungssystems, und zwar sowohl Erfahrungen im Zufluchtsland als auch im Herkunftsland (Gil-González et al., 2014). Versorgungsfaktoren im Herkunftsland können entweder nicht vorhanden sein (insbesondere niedrigschwellige Angebote) oder mit Stigma belastet sein. Zuschreibungen von Substanzmissbrauch als Verhalten kann im Herkunftsland zu Stigma geführt haben, weshalb Unkenntnis über medizinische Erklärungsmodelle für Substanzmissbrauch vorhanden sein kann (Gil-González et al., 2014). Weiterhin werden Geflüchtete mit problematischem Substanzkonsum bisher wenig durch die Angebote der Suchthilfe erreicht.

Erfassung von problematischem Substanzgebrauch und substanzbezogenen Störungen bei Geflüchteten

Ursachen für die heterogene Evidenz zu Flucht und Substanzgebrauch sowie Substanzmissbrauch könnten zum einen die genannten Unterschiede bei den Risikofaktoren sein oder das Fehlen validierter Erfassungsinstrumente in Geflüchteten-Populationen (Horyniak et al., 2016; Lindert et al., 2021). Die Erfassung von Substanzgebrauch und Substanzmissbrauch bei Geflüchteten ist daher eine Herausforderung für das Gesundheitssystem in den Zufluchtsländern und letztlich konnten auch aufgrund dieser Problematik bisher keine verlässlichen Aussagen zur Verbreitung von Substanzmissbrauch bei Geflüchteten gemacht werden.

Best-Practice-Bereich

Geflüchtete sind keine homogene Gruppe, sie unterscheiden sich insbesondere nach Herkunftsländern und den dortigen Erfahrungen, nach Fluchtdauer und individuellen Charakteristika. „Best practice“ würde deshalb generell auch beinhalten, Risikocluster zu identifizieren und entsprechend der identifizierten Faktoren Angebote zu entwickeln.

Im Best-Practice-Bereich gibt es bereits Beispiele, wie die Wissenschaft nicht nur zu besserem Wissen, sondern damit auch zu einer besseren Versorgung von Menschen mit substanzbezogenen Störungen beitragen kann. Ein konkretes Bespiel ist der vom BMBF geförderte Forschungsverbund PREPARE (s. Schäfer et al. in diesem Heft). Innerhalb des Verbunds sollen nicht nur Interventionen für Geflüchtete adaptiert, sondern auch die Erfassung von Substanzkonsum bei Geflüchteten verbessert werden. Daher wird in einem Teilprojekt in enger Kooperation mit einem Team geflüchteter Ärzt*innen derzeit ein Erfassungsinstrument für Substanzkonsum erarbeitet, das im weiteren Verlauf des PREPARE-Projekts in Beratungsstellen erprobt und validiert wird.

Weitere Best-Practice-Beispiele sind die Angebote, die auch für andere vulnerable Gruppen identifiziert wurden, so u. a. die Entwicklung und der Zugang zu integrierenden Gesundheits- und Sozialdiensten sowie die Koordinierung und Vernetzung unterschiedlicher Dienste (Welbel et al., 2013). Insgesamt sind insbesondere Projekte und Initiativen in Deutschland sinnvoll, in denen Sucht-, Geflüchteten- und ggf. Jugendhilfe zusammenarbeiten, um Hilfen in Bezug auf die unterschiedlichen Bedarfe der besonders vulnerablen Zielgruppe von Geflüchteten mit Substanzproblemen zusammenzuführen und optimal aufeinander abzustimmen.

Weiterhin hat sich als sinnvoll herausgestellt, Dienste und Interventionen für die Zielgruppe der Geflüchteten kulturell zu adaptieren (Healey et al. 2017). Die Entwicklung von Interventionen zur Prävention von Substanzmissbrauch ist daher nicht nur für die Gruppe Geflüchteter, sondern aus Public-Health-Perspektive auch für die Gesamtbevölkerung eine Möglichkeit, Best Practice bei Diensten zur Reduzierung schädlichen Substanzmittelgebrauchs weiterzuentwickeln.

 

Literatur

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). 2020. Aktuelle Zahlen. BAMF, Nürnberg.

Gil-González, D., Carrasco-Portiño, M., Vives-Cases, C., Agudelo-Suárez, A. A., Castejón Bolea, R., & Ronda-Pérez, E. (2014). Is health a right for all? An umbrella review of the barriers to health care access faced by migrants. Ethnicity & Health, 20(5), 523–541.

Hadgkiss, E. J., & Renzaho, A. M. N. (2014). The physical health status, service utilization and barriers to accessing care for asylum seekers residing in the community: a systematic review of the literature. Australian Health Review, 38(2), 142–159.

Healey, P., Stager, M. L., Woodmass, K., Detlaff, A. J., Vergara, A., Janke, R. & Wells, S. J. (2017). Cultural adaptations to augment health and mental health services: a systematic review. BMC Health Services Research, 17, 8.

Horyniak, D., Melo, J. S., Farrell, R. M., Ojeda, V. D., & Strathdee, S. A. (2016). Epidemiology of substance use among forced migrants: A global systematic review. PLoS One, 13, 11(7), e0159134.

International Organization for Migration (2004). Glossary on migration. Geneva, Switzerland: International Organization for Migration.

Lindert, J., Neuendorf, U., Natan, M., & Schäfer, I. (2021). Escaping the past and living in the present: a qualitative exploration of substance use among Syrian male refugees in Germany. Conflict and Health, 15 (26).

Orsolini, L., Corkery, J. M., Chiappini, S., Guirguis, A., Vento, A., De Berardis, D. Papanti, D. & Schifano, F. (2020). New designer Nezodizepines, an analysis of the literature and psychonauts trip reports. Psychopharmcology, 18(9), 1–29.

Rinaldi, R., Bersani, G., Marinelli, E., & Zaami, S. (2020). The rise of new psychoactive substances and psychiatric implications: A wide ranging, multifaceted challenge that needs far reaching common legislative strategies. Human Psychopharmacology, 35(3), e2727.

Singh, G. K., & Hiatt, R. A. (2006). Trends and disparities in socioeconomic and behavioral characteristics, life expectancy, and cause-specific mortality of native-born and foreign-born populations in the United States, 1979–2003. International Journal of Epidemiology, 35(4), 903–919.

Spiegel, P. B., Checchi, F., Colombo, S., & Paik. E. (2010). Health-care needs of people affected by conflict: future trends and changing frameworks. The Lancet 375 (9711), 341–345.

Toole, M. J., & Waldman, R. J. (1997). The public health aspects of complex emergencies and refugee situations. Annual Review of Public Health, 18, 283–312.

UN Refugees Agency. Global Trends Report. 2021. Geneva, Switzerland.

United Nations High Commissioner for Refugees (2015). World at War: UNHCR Global Trends – Forced Displacement in 2019. Geneva, Switzerland: United Nations High Commissioner for Refugees.

United Nations Office on Drugs and Crime, World drug report (2019). Vienna, Austria, United Nations Publications.

UNODOC – United Nations Office on Drugs and Crime. Covid-19 and the drug supply chain: From production and trafficking to use (2020). Vienna, Austria: UNODOC Research and Trend analysis branch. Vienna International Centre, S. 1–37.

Viruell-Fuentes, E. A., Miranda. P. Y., & Abdulrahim, S. (2012). More than culture: Structural racism, intersectionality theory, and immigrant health. Social Science & Medicine, 75, 2099–2106.

Welbel, M., Matanov, A., Moskalewicz, J., Barros H., Canavan, R., Gabor, E., Gaddini, A., Greacen, T., Kluge, U., Lorant, V., Pena, M. E., Schene, A. H., Soares, J. J. F., Straßmayr, C., Vondrackova, P., & Priebe, S. (2013). Addiction treatment in deprived urban areas in EU countries: Accessibility of care for people from socially marginalized groups. Drugs: Education, Prevention and Policy. 20(74), 74–83.

 

Prof. Dr. Jutta Lindert ist Gesundheitswissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Public Global Mental Health, Resilienzforschung und Gewalt, Migration und Gesundheit. Sie ist derzeit Vizepräsidentin der Sektion Public Mental Health der European Public Health Association (EUPHA).

Prof. Dr. med. Ingo Schäfer, MPH, ist Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung (ZIS) der Universität Hamburg und Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

 

Kontakt:
Jutta.Lindert(at)hs-emden-leer.de

 


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