Julia Kiemes, Laura Trierweiler, Yvonne Nadine Wacht, Gemeinsame Diakonische Werke Rheinland-Süd gGmbH

Erwerb von transkulturellen Kompetenzen als Investition in die Zukunft

Das AMIF-Projekt "Vielfalt-Plus⁺: Fortbildungen für transkulturelle Kompetenzen und Diversity"

Gesellschaftliche Vielfalt als Ressource
Rund 26 Prozent der Bevölkerung Deutschlands haben einen Migrationshintergrund: Während manche angesichts dieser gesellschaftlichen Vielfalt schon von der postmigrantischen Gesellschaft sprechen und kulturelle Heterogenität als die neue Norm betrachten, gestaltet sich der produktive und ressourcenorientierte Umgang mit Transkulturalität für Fachkräfte in den verschiedensten Bereichen häufig als sehr herausfordernd. Neben Toleranz sind auch Kommunikationsstrategien und Hintergrundwissen zu Sozialisationsfaktoren notwendig, damit Vielfalt als Ressource genutzt werden kann – doch diese Fertigkeiten lernt man nicht nebenbei. Hier setzt das Bildungsprojekt Vielfalt Plus+ an, welches durch den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds der Europäischen Union und durch das Bundesland Rheinland-Pfalz gefördert wird. Vielfalt Plus+ vermittelt die nötigen Kompetenzen für die Unterstützung der wirksamen Inklusion von Drittstaatsangehörigen.

Mit der „Interkulturellen Lernreise“ hat das Projektteam ein ganz besonderes Format entwickelt, welches das fundierte Fachwissen von Referentinnen und Referenten aus der Bildung und Forschung mit dem kulturspezifischen Wissen Drittstaatsangehöriger kombiniert. Menschen aus Ländern wie Syrien, Afghanistan, Iran und Eritrea, die selbst Fluchterfahrung haben, sind bei der interkulturellen Lernreise als Fachleute geladen und bilden Lerntandems mit den Teilnehmenden. Es findet ein Perspektivwechsel statt: Man redet nicht mehr nur über Menschen aus anderen Kulturen, sondern mit ihnen.

Die Lernreise richtet sich vor allem an Verwaltungsangestellte, die in ihrer täglichen Arbeit im Bereich Bürgeramt, Amt für Soziales, Ordnungsamt oder auch im Gesundheitsamt stets mit Drittstaatsangehörigen interagieren müssen, jedoch auf einer sehr sachlichen und teils unpersönlichen Ebene. 

In solchen Begegnungen kann fehlendes Hintergrundwissen schnell zu Spannungen führen. Wer sich auf die interkulturelle Lernreise begibt, lernt dort, kulturspezifische Stolperfallen zu erkennen und zu vermeiden.

Im Rahmen der dreitägigen Lernreise interagieren die Teilnehmenden sowohl themenzentriert als auch in der Freizeit. In diesem transkulturellen Mikrokosmos auf Zeit entsteht ein Lernraum für kulturübergreifendes Teambuilding, indem sich die Teilnehmenden auf Augenhöhe aufeinander zubewegen. Neben der Begegnung und der damit automatisch verbundenen Erweiterung der transkulturellen Softskills hat auch die direkte Wissensvermittlung ihren Platz: Wechselseitige Themen-Inputs zu transkulturellen Fragestellungen (Zeitkonzepte, Erziehungsziele, Geschlechterrollen, Konfliktbewältigung, Gesundheit, Spiritualität u. v. m.) durchziehen die gemeinsamen Tage. In diesem geschützten Setting ist in der Freizeit auch Raum für Fragen, über die man sonst nicht spricht: Was kostet eine Flucht? Wie denkt man in den Herkunftsländern der Kulturexpertinnen und -experten über Behinderung? Wie geht man dort mit psychischen Krankheiten um? Warum leben ältere Menschen in Deutschland so oft im Altersheim und nicht bei ihrer Familie?

Transkulturelle Kompetenzen für pädagogische Fachkräfte
Transkulturelle Kompetenz ist wichtig für Fachkräfte im schulischen Kontext, um ein empathisches Vorbild für eine diverse Schülerschaft zu sein, und versetzt sie in die Lage, die Lernenden unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund zu guten Lernleistungen zu befähigen. Folgerichtig stellt der rheinland-pfälzische „Orientierungsrahmen Schulqualität“ vielfältige Bezüge zur interkulturellen Bildung her und verbindet interkulturelle Kompetenz fest mit der Professionalität der in der Schule tätigen Personen wie Lehrerinnen und Lehrer, Inklusionshilfen, Heilerziehungspflegerinnen und -pfleger, Sozialassistentinnen und -assistenten, Schulpsychologinnen und -psychologen sowie Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter (Kultusministerkonferenz 2017: 42). Genauso gefordert sind diese Kompetenzen auch bei den Fachkräften in der Kita, der Jugendhilfe oder dem Jugendamt. 

Mit unterschiedlichen Bildungsformaten, wie zum Beispiel Abend-Inputs, Tagesseminaren und Moodles, bietet das Team von Vielfalt Plus⁺ ein umfassendes Angebot. In interaktiven Inhouse-Seminaren und Workshops vermittelt es interkulturelle Kompetenzen.

Bei weiterführenden Seminaren, wie etwa zu Traumatisierung oder zu Konzepten von psychischer Krankheit und Behinderung im Islam, werden externe Expertinnen und Experten hinzugezogen. So zum Beispiel auch beim Tagesseminar „Empowerment durch Biografiearbeit“ (19. Juni 2024, 9 bis 16 Uhr, Hermeskeil, www.vielfalt-plus.de/veranstaltungen). Mit der Referentin Dr. Iva Hradská hat das Team eine Fachfrau mit einschlägiger Erfahrung gewinnen können. Sie lehrt und forscht an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zu migrationsgesellschaftlicher Pädagogik und hat zu Empowerment-Prozessen von Migrantinnen promoviert. Biografiearbeit ist eine pädagogische Intervention, die sich besonders auch für Menschen eignet, die traumatische Ereignisse wie Krieg und Flucht erlebt haben. Mithilfe von Biografiearbeit können belastete Menschen sich wieder als stark und autonom erleben – Gefühlen wie Ohnmacht und Hilflosigkeit wird aktiv entgegengewirkt.

Barrieren reduzieren – Elternseminare als Basis-Baustein
Neben Schulungen für Fachkräfte im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen ist es im Sinne der Chancengleichheit essenziell, drittstaatsangehörige Eltern und Erziehungsberechtigte bei der Integration ins Bildungssystem zu unterstützen. Schließlich wird der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen in Deutschland neben dem sozioökonomischen Status der Eltern auch von deren Migrationserfahrung und den Herausforderungen, die sich aus den kulturellen Unterschieden im Erziehungs- und Bildungsbereich ergeben, beeinflusst (Lokhande et al. 2014:6).

Mit dem Format der Elternseminare möchte das Projekt Vielfalt-Plus⁺ Erziehungsberechtigten aus Drittstaaten ein kostenloses Bildungsangebot machen, um zum einen Wissen über das Bildungssystem zu vermitteln und zum anderen Raum für Auseinandersetzungen mit Erziehungsthemen und der eigenen Integrationsgeschichte zu geben. Um Sprachbarrieren abzubauen und eine Wissensvermittlung zu garantieren, werden für die Schulungen Dolmetschende eingesetzt. Eine Kinderbetreuung für Familien mit kleinen Kindern ist während dieser Zeit ebenfalls garantiert, um allen die Teilnahme zu ermöglichen. Neben Themen wie Erziehungskompetenz, Möglichkeiten der Frühförderung und einem Überblick über Frühe Hilfen stehen auch Bastelnachmittage, Vorleseangebote, Waldspaziergänge u. ä. auf der Agenda. „Es ist uns wichtig, die Teilhabe in Gesellschaft und Bildung zu ermöglichen und Barrieren zu reduzieren“, so Laura Trierweiler, Bildungsreferentin beim Projekt Vielfalt Plus⁺.

Vielfaltskompetenzen als Investition in die Zukunft
Laut einer Studie der OECD ist Deutschland inzwischen hinter den USA auf Platz zwei der beliebtesten Zielländer. Bereits seit 2010 ist der Wanderungssaldo positiv, das heißt: Mehr Menschen ziehen nach Deutschland als aus Deutschland weg. Bei der Erwerbsmigration ist ebenfalls ein klarer Trend zu verzeichnen: Der Anteil ausländischer Beschäftigter in Deutschland steigt seit Jahren. 2021 lag er bei 13,4 Prozent (4,5 Millionen Menschen) und damit doppelt so hoch wie 2010. In Zukunft wird Deutschland als Zielland beliebt bleiben, da es über einen robusten Arbeitsmarkt verfügt und als Sozialstaat ein sicheres Netz für Bürgerinnen und Bürger bietet. Entsprechend ist der Erwerb von transkulturellen Kompetenzen nicht nur eine notwendige Reaktion auf die derzeit bestehende demografische Vielfalt, sondern auch eine langfristige Investition in die Zukunft. Auch weil aufgrund des demografischen Wandels ausgebildete Fachkräfte in Deutschland zunehmend fehlen, müssen Unternehmen sich für eine diverse Belegschaft transkulturell öffnen.

Das Plus an Wissen – Formatvielfalt für verschiedene Zielgruppen
Während sich die Tagesseminare und Fachtage von Vielfalt Plus⁺ an Fachkräfte aus dem Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen richten und auch die Elternseminare eine geschlossene Zielgruppe haben, gibt es auch niedrigschwellige und kostenfreie Angebote. 

Das „Peer-Group-Forum“ des Projekts richtet sich beispielsweise an alle Interessierten – egal ob ehrenamtlich Tätige, privat Interessierte oder Fachkräfte wie beispielsweise Migrationsberaterinnen und -berater sowie Psychologinnen und Psychologen. Neben Themen-Inputs rund um gesellschaftliche Vielfalt bekommen die Teilnehmenden beim Peer-Group-Forum Kontakt zu Gleichgesinnten, und die Möglichkeit, sich zu vernetzen, wird gefördert. Themen wie Aufenthaltspapiere, Umgang mit Traumatisierung, Schwangerschaftsberatung und Frühe Hilfen oder Antirassismus werden nicht trocken abgearbeitet, sondern mit interaktiven Elementen wie Quizzes, Umfragen und Diskussionsrunden aufgelockert. Vielfalt Plus⁺ liefert außerdem umfassende Nachbereitungen der Themen und regelmäßige Neuigkeiten zu Themen rund um Transkulturalität und Diversity via Newsletter und Social Media. Insgesamt vermittelt Vielfalt Plus⁺ nicht nur Wissen zu Migrations- und Integrationsprozessen, das Projekt sorgt durch seine Formate auch dafür, dass Synergien entstehen und neue fachlich-zentrierte Kontakte geknüpft werden – ein wichtiger Schritt hin zur Nutzung von Vielfalt als Ressource.

Literatur:
„Orientierungsrahmen Schulqualität”. Herausgegeben vom Ministerium für Bildung, Bildungsserver Rheinland-Pfalz, Pädagogisches Landesinstitut Rheinland-Pfalz, Feb. 2017, bildung-rp.de/fileadmin/user_upload/bildung-rp.de/beratung/Download/2017/Broschuere_ORS_2017_WEB.pdf.

Lokhande, Mohini, et al. „Eltern als Bildungspartner: Wie Beteiligung an Grundschulen gelingen kann”. Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR), Bundesministerium des Innern und für Heimat, 2014, www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2023/01/SVR-FB_Elternbeteiligung-8.pdf 

Dumont, Jean-Christophe. „Is migration really increasing?” Organisation for Economic Cooperation and Development, Migration Policy Debates, May 2014, www.oecd.org/berlin/Is-migration-really-increasing.pdf 

Autorinnen:
Julia Kiemes, Laura Trierweiler und Yvonne Nadine Wacht (Projektleitung) verantworten das Projekt „Vielfalt Plus⁺“.

Kontakt: 
Homepage: www.vielfalt-plus.de; E-Mail: vielfalt-plus(at)diakoniehilft.de 


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