Autorinnen: Katja Lindner, Ute Merkel¹
1. Einleitung
In der Ausgabe 3/2022 des Infodiensts Migration, Flucht und Gesundheit wurden Prävalenzen für psychiatrische Erkrankungen bei Geflüchteten am Beispiel der PTBS sowie die gesetzlichen Behandlungsansprüche in Deutschland beschrieben (Lindner, 2022). Trotz der rechtlichen Integration der Geflüchteten aus der Ukraine in die Regelversorgung ab dem 1. Juli 2022 bzw. des Wegfalls der leistungsrechtlichen Einschränkungen des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) bestehen bestimmte Herausforderungen auch bei der Versorgung Geflüchteter aus der Ukraine fort. Im Beitrag werden zunächst einige grundlegende Problematiken bei der Versorgung Geflüchteter in Deutschland skizziert. Daran anschließend wird ein Lösungsansatz beschrieben, der mit der Internationalen Praxis Dresden und insbesondere mit der dortigen psychiatrischen Sprechstunde verfolgt wird. Nach einem kurzen Blick auf die Entwicklung der Praxis, die Personalstruktur und das entstandene Netzwerk werden Daten zur Anzahl der versorgten Patientinnen und Patienten sowie zu den psychiatrischen Diagnosen vorgestellt. Zusätzlich werden Herausforderungen der psychiatrischen Versorgung in der Internationalen Praxis Dresden und erste Erfahrungen mit der Fluchtmigration aus der Ukraine beschrieben. Abschließend werden Handlungsbedarfe formuliert, die sich aus der Analyse der Versorgungsbarrieren Geflüchteter einerseits und den Erfahrungen aus der psychiatrischen Sprechstunde der Dresdner Internationalen Praxis andererseits ableiten lassen.
2. Herausforderungen bei der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung Geflüchteter in Deutschland
Der Zugang Geflüchteter zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland ist „prekär“ (Töller, Reiter, Günther & Walter, 2020, S. 37). Zu den hauptsächlichen Problembereichen gehören die Identifikation von besonderer Schutzbedürftigkeit und Behandlungsbedarfen nach der EU-Aufnahmerichtlinie von 2013², die praktische Definition und Umsetzung der Rechtsansprüche, der bürokratische Zugang über Behandlungsscheine, die Kostenübernahme für die Sprachmittlung und die Frage der Behandlungskapazitäten (vgl. Töller et al., 2020; BAfF, 2020a; Lindner, 2022). Im Folgenden werden die beiden letztgenannten Bereiche skizziert, da sie auch für Geflüchtete aus der Ukraine in der medizinischen Regelversorgung von erheblicher Relevanz sind.
2.1 Kapazitäten der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung Geflüchteter
Auf Psychotherapien müssen Menschen in Deutschland durchschnittlich mehrere Monate warten (Ärzteblatt, 2022). Für Geflüchtete gestaltet sich die Situation in der Regel noch schwieriger, obwohl sie in Bezug auf psychische Erkrankungen häufig höhere Bedarfe haben (vgl. Lindner 2022)³. Unter anderem fehlt es auch bereits in den (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen an entsprechenden psychologischen Unterstützungsangeboten (Wahedi et al., 2020, S. 1463). Vor allem – aber nicht nur – in den ersten 18 Monaten des Aufenthalts, wenn Geflüchtete im Allgemeinen noch keinen gesetzlichen Zugang zur Regelversorgung⁴ haben, sind die bundesweit existierenden Psychosozialen Zentren (PSZs)⁵ von besonderer Relevanz; sie schließen teilweise bestehende wesentliche Versorgungslücken (vgl. SVR, 2022, S. 135)⁶. In ihnen kommen mehrsprachige, interkulturell geschulte und interprofessionell ausgerichtete Teams aus Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Psychologinnen und Psychologen, Sozialarbeitenden und Sprachmittelnden zum Einsatz. Das deutschlandweite Netz der Psychosozialen Zentren wurde insbesondere seit 2015 deutlich erweitert.
Die „Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer“ (BAfF) veröffentlicht regelmäßig und zuletzt 2022 statistische Daten zu den durch die Zentren versorgten Geflüchteten. Demnach konnten die PSZs und ihre Kooperationspartnerinnen und -partner den von ihnen geschätzten Versorgungsbedarf bei Geflüchteten in Deutschland im Jahr 2020 nur zu 4,6 Prozent abdecken. 19.352 Klientinnen und Klienten wurden in PSZs behandelt, 6.113 konnten weitervermittelt und 9.720 Personen mussten aus Kapazitätsgründen abgelehnt werden. Bei den 39 PSZs in Deutschland besteht eine durchschnittliche Wartezeit von 6,7 Monaten auf einen Therapieplatz (BAfF, 2022, S. 92).
Die Weitervermittlung von den PSZs zu niedergelassenen (Fach-)Ärztinnen und Ärzten, Psychotherapeutinnen und -therapeuten, Sozialberatungsstellen und Kliniken u. a. m. ist aufgrund unzureichender Fachkenntnisse und Berührungsängsten oft schwierig (BAfF, 2022): Konkret bestehen aus Sicht niedergelassener Psychotherapeutinnen und -therapeuten folgende Problembereiche: die von einem unsicheren Aufenthaltsstatus (und damit unsicherer therapeutischer Perspektive) geprägten Lebensbedingungen der Geflüchteten, die Finanzierung und aufwendige Beantragung von Psychotherapien, kulturelle Unterschiede und die unklare Kostenübernahme der Sprachmittlung (Thöle, Penka, Brähler, Heinz, & Kluge 2017 S. 148ff). Im Versorgungsbericht 2020 der BAfF wurden außerdem erhebliche regionale Unterschiede (Stadt/Land sowie Ost/West) hinsichtlich der Quoten einer erfolgreichen Weitervermittlung geflüchteter Patientinnen und Patienten in die Regelversorgung beschrieben. Demnach gelingt eine Weitervermittlung zu Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Metropolen doppelt so häufig wie in ländlichen Regionen, während dort eher eine Vermittlung zu niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiatern sowie in Kliniken gelingt. Im Osten Deutschlands ist die Vermittlungsquote an niedergelassene Psychotherapeutinnen und -therapeuten dreimal geringer (BAfF, 2020, S. 109). Die Tatsache, dass es im Osten Deutschlands aus historischen Gründen und migrationsbedingt mehr einheimische sowie migrierte Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und-therapeuten mit Russischkenntnissen geben dürfte, könnte die Integration der Geflüchteten aus der Ukraine jedoch erleichtern. Genaue Daten hierzu liegen noch nicht vor. Entsprechend einer Statistik der Sächsischen Landesärztekammer kamen aber von den insgesamt knapp 3.000 ausländischen Ärztinnen und Ärzten (im Allgemeinen) in Sachsen im Jahr 2021 5 Prozent aus der Ukraine und 6 Prozent aus der Russischen Föderation⁷.
Insgesamt lässt sich bisher hinsichtlich der Integration in die Regelversorgung keine positive Entwicklung erkennen (BAfF 2022, S. 95f). Trotz der Unabdingbarkeit der Arbeit der PSZs ist deren Finanzierung regelmäßig befristet, was zu einem permanenten hohen Verwaltungsaufwand und Unsicherheit führt. Nur 3,7 Prozent der Gesamtfinanzierung erfolgte durch eine Kostenerstattung durch gesetzliche Leistungsträger, vor allem nach dem AsylbLG. Vielmehr sind es vor allem projektbezogene Landesmittel sowie auch kommunale Gelder, Bundes- und EU-Mittel, die zur Finanzierung beitragen (BAfF, 2022, S. 97). Häufig werden Anträge auf Kostenübernahme für Therapien durch Sozialämter abgelehnt, was u. a. an den eingangs erwähnten rechtlich-administrativen Ermessensspielräumen der Leistungsgewährung und der unzureichenden Identifizierung besonderer Bedarfe bzw. besonderer Schutzbedürftigkeit liegt.
2.2 Finanzierung der Sprachmittlung
Sprachliche Verständigung ist unabdingbar für die gesundheitliche Versorgung im Allgemeinen und für die Behandlung psychischer Erkrankungen im Besonderen. Ärztinnen und Ärzte tragen ein Haftungsrisiko bei der Versorgung von Patientinnen und Patienten und können (außer in Notfällen) eine Behandlung ablehnen, wenn sie eine ausreichende Verständigung mit ihnen nicht gewährleistet sehen (vgl. Lindner 2021a). Der Einsatz von Familienmitgliedern – insbesondere der von Kindern – oder Freundinnen bzw. Freunden zur Übersetzung bei psychiatrischen Gesprächen ist grundsätzlich problematisch. Wenn geeignete Sprachmittelnde zur Verfügung stehen, stellt sich im Fortgang die Frage der Finanzierung. Nach dem AsylbLG ist eine Kostenübernahme der Sprachmittlung teilweise als Ermessensleistung möglich (§§ 4 oder 6 AsylbLG), im Rahmen der Regelversorgung über die GKV bzw. SGB ist dies bisher ausgeschlossen (Lindner, 2021a, S. 14)⁸. Davon sind also auch die in die Regelversorgung integrierten Geflüchteten aus der Ukraine betroffen. Derzeit bleibt abzuwarten, ob die Bundesregierung dieser Problematik, dem Koalitionsvertrag entsprechend, Abhilfe schafft (vgl. SVR, 2022, S. 157f). Bei der Versorgung durch Kliniken können diese auch für die Kostenübernahme der Sprachmittlung herangezogen werden (Deutscher Bundestag, 2017). In der Praxis gestaltet sich die sprachsensible Versorgung in psychiatrischen Kliniken jedoch schwierig. Oft gelingt es nur durch dort tätige Muttersprachlerinnen und Muttersprachler, zum Teil aus anderen Fachrichtungen, durch Angehörige mit Deutschkenntnissen (oft auch den Kindern) oder ehrenamtliche Dolmetscherinnen und Dolmetscher bei den stationären Behandlungen eine Mindestverständigung abzusichern.
3. Die psychiatrische Versorgung durch die Internationale Praxis Dresden
3.1 Die Geschichte der Dresdner Flüchtlingsambulanz
Bereits vor dem Sommer 2015 gab es bei verschiedenen Akteuren ein Bewusstsein um praktische Versorgungsbarrieren, gesetzliche Versorgungsverpflichtung und steigende Flüchtlingszahlen. Eine ehrenamtliche Initiative entwickelte ab Dezember 2014 im Austausch mit der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen und der Landeshauptstadt Dresden das Konzept für eine Flüchtlingsambulanz (Lindner, Taché, Tacke, Denzin, & Prehn, 2015). Aufgrund des im Sommer 2015 enorm gestiegenen Handlungsdrucks hinsichtlich der gesundheitlichen Versorgung neu ankommender Geflüchteter wurden auf Veranlassung des Freistaats Sachsen tatsächlich solche Ambulanzen zunächst in Dresden, dann in Leipzig und Chemnitz eingerichtet⁹ – damit wurden u. a folgende Ziele verfolgt: die Gewährleistung von vor allem primärmedizinischer Versorgung von Asylsuchenden auf Basis des AsylbLG mithilfe eingestellter mehrsprachiger Ärztinnen und Ärzte, Praxispersonal und Sprachmittelnder, die Entlastung des niedergelassenen Systems und der kommunalen Verwaltung, die Verbesserung der Versorgungsqualität durch die gebündelte Fach- und interkulturelle Kompetenz sowie die Förderung der gesundheitlichen und gesellschaftlichen Integration (Sächsisches Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz, 2015a, b). Während die Stadt Leipzig sich später gegen die Fortführung des Modellprojekts entschied und dies mit der anvisierten Integration in die Strukturen der Regelversorgung begründete (Stadt Leipzig, 2016), existieren die Praxen in Dresden und Chemnitz auch über das Jahr 2022 hinaus. Mit nach 2015/16 zurückgehenden Flüchtlingszahlen und der zunehmenden rechtlichen Integration der Asylsuchenden (nach 18 Monaten Wartezeit) in die Regelversorgung kam es zu einer Umbenennung der Ambulanzen in „Internationale Praxen“, die seitdem Anlaufpunkt für weitere Personenkreise mit Migrationshintergrund darstellen.
Die Internationale Praxis in Dresden wird betrieben durch die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen und finanziert sich anteilig durch die Abrechnung der Leistungen über Behandlungsscheine und Krankenkassenkarten. Eine Restkostenfinanzierung erfolgt auf vertraglicher Basis durch den Freistaat Sachsen bis zu einer festgelegten Höhe¹⁰.
3.2 Personalstruktur der Internationalen Praxis Dresden und Verweisungsnetzwerk
Im Kern handelt es sich um ein primärmedizinisches – also vor allem hausärztliches (mit psychosomatischer Grundversorgung) – sowie kinderärztliches, gynäkologisches und psychiatrisches Versorgungsangebot unter steter Einbeziehung von Sprachmittelnden, medizinischen Fachangestellten, Verwaltungsmitarbeitenden und einer Praxiskoordinatorin. Die wesentlichen Vorteile einer solchen Praxis sind die Bündelung von medizinischer, interkultureller und fremdsprachlicher Kompetenz, das interprofessionelle Arbeiten sowie die Entlastung niedergelassener und kommunaler Strukturen auch von Verwaltungsaufwand. Das Personal hat teilweise selbst Migrationserfahrungen und/oder Berufserfahrungen im Ausland gemacht. Derzeit bestehen in der Internationalen Praxis Sprachmittlungsmöglichkeiten für die Sprachen Arabisch, Kurdisch, Farsi, Paschtu, Urdu, Dari, Russisch, Georgisch, Englisch, Französisch und Spanisch. Die Praxis ist täglich geöffnet. Die Grafik 1 im Anhang gibt einen Einblick in die Personalstruktur und das Träger-, Verweisungs-, und Kooperationsnetzwerk der Internationalen Praxis Dresden, das seit 2015 besteht, wobei es aber immer wieder zu Veränderungen kam. Als ein wichtiger Kooperationspartner kam das später eingerichtete Psychosoziale Zentrum Dresden hinzu, wohingegen die Traumaambulanz der Uniklinik Dresden kapazitätsbedingt keine Patientinnen und Patienten der Internationalen Praxis mehr aufnehmen kann. Hervorzuheben ist zudem die Kooperation mit dem niedrigschwelligen Angebot der sogenannten Krisensprechstunde in (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen (Pabel, Bilz & Schellong, 2020)
3.3 Gesamtzahlen zu Patientinnen und Patienten und Herausforderungen der psychiatrischen Versorgung
Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Gesamtzahl der Kontakte zu Patientinnen und Patienten sowie der Behandlungsfälle in den Jahren 2020 und 2021, über den Anteil verschiedener Kostenträger sowie über die Zahlen zu psychiatrischen Gesprächen durch die Psychiaterin und Behandlungen im Zuge der psychosomatischen Grundversorgung durch die Hausärztinnen und -ärzte der internationalen Praxis.