Nora Brezger

Die Coronapandemie verschärft Bildungsungerechtigkeit für geflüchtete Kinder und Jugendliche in Sammelunterkünften

Schlagwort(e): Bildung, Coronavirus, Geflüchtete, Kinder, Unterkünfte

Die Massenunterbringung von Menschen in Sammelunterkünften wird bundesweit von verschiedenen Organisationen, vor allem von den Landesflüchtlingsräten, immer wieder thematisiert und kritisiert. Nicht nur, weil Menschen in Zwangsgemeinschaften auf engstem Raum zusammenleben und sich mit vielen anderen Menschen die Sanitäranlagen teilen müssen, sondern auch, weil es in Massenunterkünften keine Privatsphäre gibt, keine Rückzugsorte und keine Ruhe. Besonders für Kinder und Jugendliche ist das Leben in Sammelunterkünften schwierig (Siehe hierzu https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuelles/detail/gewaltschutz-von-kindern-in-sammelunterkuenften.).  Für Hausaufgaben und Vorbereitungen auf Klassenarbeiten und Prüfungen fehlt häufig die Ruhe und nicht selten der Platz. Auch können die Eltern bei den Schulaufgaben und Prüfungsvorbereitungen aufgrund von noch nicht vorhandenen Deutschkenntnissen oft nicht helfen. Ehrenamtliche oder hauptamtliche Nachhilfelehrer*innen erreichen nur einen Bruchteil der Kinder und Jugendlichen in Sammelunterkünften, insbesondere in ländlichen Regionen. Flüchtlingsunterkünfte liegen nicht selten fernab der größeren Orte und manchmal sogar außerhalb des Mobilfunknetzes. Soweit die Situation vor der Coronapandemie.

Verschärfung von Bildungsungerechtigkeit unter Pandemiebedingungen
Die Ausbreitung von COVID-19 und die Maßnahmen zur Eindämmung machen Probleme und vor allem die strukturelle Benachteiligung geflüchteter Kinder und Jugendliche beim Thema Bildung(szugang) wie unter einem Brennglas sichtbar, insbesondere, wenn diese in Sammelunterkünften leben.  

Während des ersten kompletten Lockdowns im Frühjahr mangelte es zunächst an mehrsprachigen Informationen. Panik und Unsicherheit breiteten sich unter den Geflüchteten innerhalb der Sammelunterkünfte aus, vor allem dort, wo es gemeinschaftliche Sanitäranlagen gibt. Dies ging an den Kindern und Jugendlichen nicht spurlos vorüber. Mitarbeiter*innen von Xenion (https://xenion.org.) berichteten von vermehrten Anrufen von geflüchteten Kindern und Jugendlichen, die durch die Situation psychisch sehr gestresst waren und zum Teil Anzeichen von Angststörungen und Depressionen zeigten. Die Schulen wurden geschlossen und es wurde zum größten Teil auf Onlineunterricht bzw. auf Homeschooling durch die Eltern umgestellt. Zwischen dem 17. März und dem 10. August 2020 fand kein regelmäßiger Unterricht in den Schulen statt. Die ersten acht Wochen des Lockdowns wurde komplett auf digitalen Unterricht bzw. Homeschooling gesetzt. Für den Großteil der geflüchteten Kinder und Jugendlichen in Sammelunterkünften bedeutete dies eine vollständige Pause von dem so bitter benötigten Schulunterricht.

Bedeutung von Schule
Nicht nur für Spracherwerb und Perspektiven geflüchteter Kinder und Jugendliche spielt die Schule eine herausragende Rolle. Sie gibt auch Stabilität und Struktur, die in der Regel während der jahrelangen Flucht überhaupt nicht gegeben waren. Außerdem haben die Kinder und Jugendlichen dort Kontakte und Ansprechpersonen, die sie unterstützen können, alles Neue in einem fremden Land mit neuer Sprache und neuen Gebräuchen zu verstehen. Ihre Eltern sind häufig sprachlich und psychisch dazu nicht in der Lage. Zudem sind sie mit sehr viel Bürokratie beschäftigt, dem Ausfüllen von Anträgen, Behördenbesuchen, der Arbeitssuche, dem Deutschkurs usw. Deshalb kommt der Schule bei geflüchteten Kindern und Jugendlichen eine absolute Schlüsselrolle zu. Während des ersten Lockdowns brach dieser Kontakt zunächst ab. Der digitale Unterricht war für geflüchtete Kinder und Jugendliche in Sammelunterkünften so gut wie nicht möglich: Häufig fehlen sowohl WLAN und auch Computer. Eltern, die in der Regel weniger deutsche Sprachkenntnisse haben als ihre Kinder, konnten ebenso wenig beim Homeschooling helfen wie die ehrenamtlichen Nachhilfelehrer*innen, die wegen der Kontaktbeschränkungen nicht mehr in die Unterkünfte kommen konnten. Laut einer Umfrage, die der Flüchtlingsrat Berlin unter Lehrer*innen von Willkommensklassen(Lerngruppen für Kinder mit keinen oder geringen Deutschkenntnissen) und Sozialarbeiter*innen in Sammelunterkünften in Berlin durchführte, waren wichtige Gründe dafür, dass kein digitaler Unterricht möglich war, die fehlende technische Ausstattung und die fehlenden IT-Kenntnisse der geflüchteten Schüler*innen (https://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/a_schul-und-lernsituation-fur-gefluchtete-kinder-und-jugendliche-wahrend-der-corona-pandemie.pdf und
https://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/b_schul-und-lernsituation-fur-gefluechtete-kinder-und-jugendliche-waehrend-der-corona-pandemie-in-unterkuenften.pdf)
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Erschwerter Zugang zu Bildung
Überall in Deutschland gab es zudem immer wieder Vollquarantänen für ganze Unterkünfte wegen einiger Infizierter. Besonders für die Kinder und Jugendlichen in den Sammelunterkünften stellte dies eine psychisch stark belastende Situation dar. Das Lernen auf beengtem Raum mit der ganzen Familie im gleichen Zimmer, ohne Computer und Internet und ohne Unterstützung durch eine*n deutsche*n Muttersprachler*in, das war und ist die Realität für geflüchtete Schüler*innen in Sammelunterkünften.

Da Willkommensklassen nach wie vor an vielen Schulen auch in der Lockdown-Planung nicht als gänzlich der Schule zugehörig betrachtet werden, lag es häufig am Engagement der Lehrkraft, ob und wie die Schüler*innen an Materialien zum Lernen kamen. Die Verantwortung des Ressorts „Bildung“ liegt aufgrund des Föderalismus bei jedem einzelnen Bundesland, dennoch fanden sich die beschriebenen Probleme in allen Bundesländern, mal schwächer und mal stärker ausgeprägt (Informationen hierzu bei den jeweiligen Landesflüchtlingsräten). Zwar wurde beispielsweise in Berlin mittlerweile das WLAN in Sammelunterkünften für Geflüchtete ausgeweitet, jedoch nicht in Obdach- und Wohnungslosenunterkünften, in denen viele anerkannte Flüchtlinge leben, solange sie keine Wohnung finden. Einige zusätzliche Lernangebote wurden über die Sommerferien realisiert, die jedoch für die geflüchteten Schüler*innen nicht ausreichten, um das Verpasste aufzuholen. Manch eine weiterführende Schule beklagte, dass ihr ältere geflüchtete Schüler*innen über den Lockdown „abhanden“ gekommen seien, insbesondere, wenn sie zuvor noch nicht lange in Deutschland gewesen waren. Das heißt, dass sie nach dem Lockdown nicht mehr zum Unterricht erschienen sind.

Der Flüchtlingsrat hat zusammen mit anderen in Briefen und zwei Pressemitteilungen immer wieder auf die Probleme des Zugangs zu Bildung für geflüchtete Kinder und Jugendliche in Sammelunterkünften während der Coronapandemie hingewiesen und auch Lösungsvorschläge unterbreitet (https://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/2020_07_10_pm_bildung_gefluechtete.pdf und
 https://fluechtlingsrat-berlin.de/wp-content/uploads/pm_bildung_fuer_alle_3_4_20.pdf)
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Vorschläge
Zwar wurden beispielsweise in Berlin 41.000 Tablets angeschafft und verteilt, wobei Methode und Kriterien der Verteilung im Unklaren bleiben; diese reichen jedoch bei Weitem nicht aus. Auch ist mit einem Tablet weder das Problem des fehlenden Internets noch das der fehlenden IT-Kenntnisse bei vielen Schüler*innen (nicht nur geflüchteten) gelöst.

Der wichtigste Schritt wäre, zunächst die Kosten von Laptop, Drucker und LTE-Stick (mit Flatrate) oder WLAN in das Bildungs- und Teilhabepaket mitaufzunehmen, und zwar für alle nach SGB II, SGB XII bzw. AsylbLG leistungsberechtigten Familien mit Schulkindern. So könnte zumindest die Voraussetzung für den digitalen Unterricht für alle Schüler*innen sichergestellt werden. Parallel hierzu muss in allen Klassen, besonders in den Willkommensklassen, der IT-Unterricht einen besonderen Stellenwert bekommen. Außerdem müssen bundesweit mehr geeignete Lernräume sowie multiprofessionelle Unterstützungsangebote zur Verbesserung der Bildungsteilhabe geschaffen werden, die die Hygienestandards während einer Pandemie von Anfang an miteinplanen (u. a. große Räume mit großen Fenstern mieten, Desinfektionsmittel und Masken bereitstellen). Außerschulische Förder- und Lernangebote müssen ausgebaut werden, insbesondere zum Thema IT und Onlineunterricht, um so das digitale Lernen in Willkommens- oder Vorbereitungsklassen sowie den Übergang in Regelklassen zu erleichtern.

Die genannten Probleme bestanden bereits vor der Coronapandemie. Doch seit deren Beginn werden sie unübersehbar, sodass es auch politisch nicht mehr möglich ist, sie zu ignorieren.

Nora Brezger arbeitet seit 2011 für den Flüchtlingsrat Berlin und leitet dort u.a. den Arbeitskreis junge Flüchtlinge,

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