Karsten Dietze

Die Coronapandemie als Brennglas

Die prekäre Situation geflüchteter Menschen mit Behinderung im deutschen Asylsystem

Schlagwort(e): Asyl- und Migrationsrecht, Behinderung, Coronavirus, Geflüchtete, Unterkünfte

In der aktuell grassierenden Coronapandemie steht Deutschland vor der Herausforderung, den Schutz aller hier lebenden Menschen zu gewährleisten. In welchem Umfang ist das bisher gelungen? Schauen wir auf die Gruppe der geflüchteten Menschen, so fällt die Bilanz negativ aus. Eine Untersuchung des Robert Koch Instituts (RKI) hat ergeben, dass es bis zum 11. August 2020 199 Ausbrüche mit insgesamt 4146 Fällen in Flüchtlingsheimen gab. Die durchschnittliche Fallzahl pro Ausbruch betrug 20,8. Zum Vergleich: In Pflegeheimen lag die Ansteckungsrate bei 18,3 Personen pro infizierte Person (Robert-Koch-Institut (2020). Epidemiologisches Bulletin 38/2020, S. 6.). Flüchtlingsunterkünfte sind damit die Orte in Deutschland mit dem höchsten Infektionsrisiko. Und auch nach August sind zahlreiche weitere Fälle hinzugekommen. Betroffen sind auch geflüchtete Menschen mit Behinderung. Im Asylaufnahmesystem werden ihre Schutz- und Unterstützungsbedarfe seit jeher zu wenig mitgedacht. Im Folgenden wird dargestellt, wie sich bestehende Mängel im Pandemiekontext verschärfen und so die körperliche Unversehrtheit schutzsuchender Menschen mit Behinderung gefährden.

Geflüchtete Menschen mit Behinderung werden nicht angemessen berücksichtigt
Deutschland hat sich im Rahmen der EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU dazu verpflichtet, bei der Asylaufnahme besondere Schutzbedarfe zu identifizieren (Art. 22). Die Umsetzung liegt bei den Bundesländern. Eine solche Identifizierung findet derzeit kaum systematisch statt. Schutz- und Unterstützungsbedarfe von Menschen mit Behinderung bleiben dadurch, sofern nicht augenscheinlich, in sehr vielen Fällen unerkannt. Infolge werden sie weder im Asylverfahren noch bei der Unterbringung beim Zugang zu behinderungsspezifischen Leistungen und Beratung sowie Bildung angemessen berücksichtigt.

Menschen mit Behinderung sind vulnerabel für schweren Krankheitsverlauf
Auch ein sich aus Beeinträchtigungen ergebendes Risiko für einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf droht so übersehen zu werden. Menschen mit Behinderung sind in vielen Fällen besonders vulnerabel für einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf. So ist z. B. das Lungenvolumen von Menschen mit Rollstuhl reduziert. Menschen mit Trisomie 21 (Down-Syndrom) haben ein schwächeres Immunsystem. Stark gefährdet ist auch ein großer Teil der chronisch erkrankten Menschen. Weitere behinderungsspezifische Herausforderungen ergeben sich für Menschen mit kognitiven und Sinnesbeeinträchtigungen. Um Schutzmaßnahmen und Verhaltensregeln gleichberechtigt verstehen und nachvollziehen zu können, sind sie zwingend auf barrierefreie Kommunikation angewiesen. Bei der Implementierung von Schutzmaßnahmen werden diese besonderen Risiken und Bedarfe nicht genug mitgedacht, z. B. im Hinblick auf bedarfsgerechte Kommunikation (oder den signifikanten psychischen Implikationen einer kollektiven Unterkunftsquarantäne).

Festhalten an der Wohnverpflichtung in oft nicht bedarfsgerechten Sammelunterkünften
Ein Großteil asylsuchender Menschen lebt in Sammelunterkünften, die unter die Zuständigkeit der Länder, Kommunen oder Landkreise fallen. Charakteristisch für diese sind eine hohe Belegungsdichte, fehlender privater Rückzugsraum, geteilte Schlafräume, Kantinen bzw. Gemeinschaftsküchen und Sanitäranlagen sowie eine oft zu dünne Personaldecke bei großer Fluktuation der Mitarbeiter*innen. Diese Faktoren machen eine angemessene Berücksichtigung behinderungsspezifischer Bedarfe in vielen Fällen schwierig oder gar unmöglich. Zugleich sind sie der Grund für hohe Infektionsrisiken, wie im Fall von Covid-19 (HI (2020). Geflüchtete Menschen mit Behinderung bedarfsgerecht unterbringen- Schutzbedarfe identifizieren.).  Bewohner*innen großer Sammelunterkünfte können sich im Gegensatz zur deutschen Mehrheitsbevölkerung nicht ausreichend vor Infektionen schützen, da Abstandsregeln nicht durchgehend eingehalten werden können und die Aerosolbelastung in den Unterkünften hoch ist. Handicap International hat in einem Appell an die Ministerpräsidenten Anfang April 2020 deshalb eine dezentrale Unterbringung von Menschen mit Behinderung gefordert (HI (2020). Geflüchtete Menschen mit Behinderung vor Corona schützen-Infektionsrisiken senken.).  Auch das RKI hat am 7. Mai in einem nicht öffentlichen Rundschreiben an die Länder auf die Notwendigkeit einer Schutz ermöglichenden Unterbringung von besonders gefährdeten Personen hingewiesen (https://www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2020/06/2020-05-07-RKI-Hinweise_COVID-19_in_Unterk%C3%BCnften.pdf.).  Der Gesetzgeber hat mit § 49 Asylgesetz ( AsylG) die Möglichkeit eröffnet, die Wohnverpflichtung sowohl aus gesundheitlichen als auch aus anderen „zwingenden“ Gründen zu beenden. Landesbehörden machten davon aber kaum Gebrauch. Stattdessen hielten sie an der Wohnverpflichtung in Erstaufnahmeeinrichtungen nach § 47 Asylg fest und kündigten im Fall anderslautender Gerichtsentscheide sogar deren Anfechtung an (https://www.mdr.de/sachsen/corona-asyl-erstaufnahme-urteile-landesdirektion-100.html.). Die vom RKI am 10. Juli veröffentlichten Empfehlungen zu Aufnahmeeinrichtungen (Robert-Koch-Institut (2020). Empfehlungen für Gesundheitsämter zu Prävention und Management von COVID-19.) wurden zu wenig umgesetzt. All dies führte zum eingangs erwähnten dramatischen Ausbruchsgeschehen während der ersten Welle und setzt sich z.T. auch im Herbst und Winter 2020 fort.

Das Asylbewerberleistungsgesetzt als Zugangsbarriere
Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) stellt für geflüchtete Menschen mit Behinderung eine massive Barriere des Zugangs zu essenziellen Diensten aus den Bereichen Gesundheit, Pflege und Teilhabe dar. Entscheidungen über diese Leistungen sind mit großen Ermessensspielräumen der zuständigen Sachbearbeiter*innen verknüpft. Antragswege werden so verkompliziert und die Türen für willkürlich anmutende Einzelfallentscheidungen geöffnet. Derzeit sind aufgrund der Coronapandemie Ämter sehr stark beansprucht. Sprechzeiten wurden eingeschränkt oder ausgesetzt. Viele Mitarbeiter*innen sind nur noch telefonisch oder oftmals auch gar nicht erreichbar. Besonders negative Auswirkungen für Geflüchtete mit Behinderung hat das in Bundesländern und Kommunen, in denen medizinische Leistungen nicht über Gesundheitskarten abgerechnet werden. Dort bedarf jede einzelne ärztliche Behandlung der vorherigen Zustimmung zur Kostenübernahme durch die Leistungsbehörde in Form eines Krankenbehandlungsscheins. Der Zugang dazu ist durch die reduzierte Erreichbarkeit der Ämter nur noch eingeschränkt möglich. Komplizierte Verfahren und vielerorts unzureichende Anpassungen verschleppen so die im Fall vieler Beeinträchtigungen wichtigen medizinischen Behandlungen.

Beratungsangebote sind Zugangsvoraussetzung für Leistungen
Die Beantragung von Leistungen aus den Bereichen Gesundheit und/oder Teilhabe konfrontieren Geflüchtete mit Behinderung mit hohen bürokratischen Hürden, die ohne unterstützende Beratungsangebote nicht überwunden werden können. Besondere Bedeutung kommt dabei Angeboten zu, die Kenntnisse zu Leistungsansprüchen von Menschen mit Behinderung mit Wissen um die Mechanismen des AsylblG verbinden und ihre Beratungsleistung den individuellen Bedürfnissen ihrer Klient*innen entsprechend gestalten. Derlei Beratungsstellen gibt es nur wenige und sie sind durch knappe Projektfinanzierungsstrukturen in ihren Ressourcen begrenzt und arbeiten in vielen Fällen am Limit. Im Kontext der Coronapandemie mussten Beratungsangebote in Einklang mit Kontaktbeschränkungen und den Schutz von Klient*innen gebracht werden. Neue Beratungssettings, (z. B. Telefonberatung) schließen stets auch neue Barrieren, (z. B. für hörbeeinträchtigte Personen) ein. Geflüchtete Menschen mit Behinderung sind trotz großen Engagements auf Berater*innenseite so mit schmerzhaften Beratungslücken und auch dem zeitweisen Verlust wichtiger Vertrauenspersonen konfrontiert. Beratungslücken treten auch bei der unabhängigen Asylverfahrensberatung durch freie Träger auf. Geflüchteten Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen bleiben so wichtige Hinweise auf behinderungsspezifische Aspekte im Asylverfahren vorenthalten.

Durch die Pandemie sichtbare Problemstellungen angehen
Die Strukturen des Asylsystems benachteiligen die vulnerable Gruppe der asylsuchenden Menschen mit Behinderung beim Zugang zu Schutz und in der Verwirklichung ihres Grundrechts auf Gesundheit. Hohe Infektionszahlen und wiederholte Massenausbrüche machen deutlich, dass Deutschland seinem Schutzauftrag gegenüber geflüchteten Menschen nicht ausreichend nachkommt. Das deutsche Asylsystem ist nur sehr begrenzt in der Lage, spezifische behinderungsbedingte Schutzbedarfe zu berücksichtigen. Menschen mit Behinderung gehen in ihm sehr oft unter. Die Erfahrungen während der Pandemie müssen daher Anlass sein, die vielen strukturellen Mängel zu beseitigen, die im Kontext von Corona an Schärfe und Sichtbarkeit zugenommen haben.

Deshalb muss

  • ein Verfahren zur Identifizierung behinderungsspezifischer Schutz- und Unterstützungsbedarfe, konzipiert, erprobt und flächendeckend implementiert werden;
  • die Wohnverpflichtung für Erstaufnahmeeinrichtungen deutlich reduziert werden. Mit § 49 Absatz 2 AsylG hat der Gesetzgeber die Perspektive eröffnet, die (Wohn-) Verpflichtung „aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge […] oder aus anderen zwingenden Gründen“ zu beenden. Entsprechend sollte der Paragraph auch angewendet werden;
  • der Zugang zu Teilhabe- und Gesundheitsleistungen sichergestellt werden. Es gilt daher das auf Exklusion und Leistungsausschlüsse hin konzipierte Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen. Ist dies nicht möglich, so sollte (anstelle des § 4 AsylbLG) § 47 ff SGB XII (Regelungen zur Hilfen zur Gesundheit) Anwendung finden;
  • der Ausschluss asylsuchender Menschen im Grundleistungsbezug von Teilhabeleistungen beendet und § 100 Abs. 2 SGB IX gestrichen werden.

Karsten Dietze | Handicap International e.V. ist Referent Advocacy im Projekt Crossroads | Flucht. Migration. Behinderung.

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