Stephanie Taché, Amand Führer, Henna Riemenschneider, Claudia Mews, Ute Siebert, Sandra Ziegler

Das Lehrnetzwerk Migration und Gesundheit

Gesundheitliche Teilhabe für Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte – Abbau von Zugangsbarrieren und Diskriminierung

Schlagwort(e): Diskriminierung, Geflüchtete, Gesundheitsversorgung, Migration

Hintergrund

Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte stoßen im deutschen Gesundheitssystem häufig auf Zugangsbarrieren, die die Qualität der ihnen zur Verfügung stehenden Versorgung mindern und ihre Gesundheit beeinträchtigen. Diese Barrieren haben zum einen politische Ursachen, sind aber auch auf einen Mangel an migrations- und diversitätsbezogenen Inhalten in medizinischen Curricula und anderen gesundheitsbezogenen Studien- und Ausbildungsgängen zurückzuführen. Obwohl die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit persönlicher oder familiärer Migrations- und Fluchtgeschichte zum Alltag gehört, sind entsprechende Inhalte in den Curricula noch kaum verankert und werden derzeit allenfalls in Form von Wahlfächern vermittelt.

Lehre: „Nicht durch Stereotypisierung schaden“

Seit vielen Jahren gibt es eine umfangreiche Debatte und kritische Stimmen, die konventionellen Ansätzen in der Vermittlung „kultureller Kompetenz“ vorwerfen, dass diese Stereotypisierung und Kulturalisierung vorantreiben. Ein zentraler Kritikpunkt ist hierbei, dass ein reduktionistisches Verständnis von Kultur die strukturellen Dimensionen von Gesundheit und Krankheit ausblendet und damit ein tieferes Verständnis von Krankheit und Leiden und der Ursachen für Zugangsbarrieren zu einer qualitativ gleich guten Gesundheitsversorgung für alle Menschen verhindert (Napier et al., 2017).

Kleinman und Benson stellten fest, dass Kultur nicht statisch und nicht in einer einzelnen Variablen fassbar ist. Kultur in einem zeitgemäßen Sinn umfasst viele Variablen, von denen jede verschiedene Aspekte einer Erfahrung beeinflusst. So unterscheiden sich kulturelle Prozesse innerhalb derselben ethnischen oder sozialen Gruppe aufgrund von Unterschieden etwa in der Alterskohorte, dem Geschlecht, dem Bildungshintergrund, der politischen Zugehörigkeit, dem sozioökonomischen Status, der Religion und der Persönlichkeit (Kleinman & Benson, 2006).

Wird diese Vielfalt und Interdependenz kultureller Prägungen beim Versuch der Förderung kultureller Sensibilität ignoriert, folgt daraus häufig eine Verstärkung von Stereotypen und Vorurteilen. Diese wiederum erhöhen das Risiko für Othering-Prozesse. Othering meint in diesem Kontext Prozesse, bei denen ein Individuum oder eine Gruppe von Menschen anderen Individuen oder Gruppen von Menschen negative Eigenschaften zuschreibt, um durch diese Zuschreibungen das eigene Selbstbild in Abgrenzung zum „Anderen“ zu konstruieren.

Eine kulturalisierende Auseinandersetzung mit Fragen von Gesundheit und Krankheit läuft darüber hinaus Gefahr, die strukturellen und sozialen Determinanten der Gesundheit (wie z. B. Bildung, sozioökonomischer Status, Machtasymmetrien, aber auch Rassismus) zu ignorieren. Diese sind aber insbesondere für die Gesundheit von Patientinnen und Patienten mit Migrationserfahrung wichtig, da diese im Alltag oft rechtlichen Sonderregeln unterworfen sind, die für den Rest der Bevölkerung nicht gelten. Zudem beeinflussen häufig sprachliche Barrieren die Kommunikation im Alltag und in der Navigation des Gesundheitssystems. Daraus ergibt sich, dass Pflege und Behandlung dieser Patientinnen und Patienten ganz besonders die systembedingten Zugangsbarrieren, wozu u. a. das Fehlen von Dolmetscherangebote gehört, mit einbeziehen muss. Dies erfordert einen Lehransatz, der den Studierenden hilft, die systemischen und strukturellen Elemente zu erkennen, die hierbei eine Rolle spielen (Metzl & Hansen, 2014).

Illustrativer klinischer Lehrfall

Kulturelle Stereotypisierung und die Zuweisung individueller Verantwortung für systemische Faktoren an die Patientinnen und Patienten mit Migrations- und Fluchterfahrung können verstärkt werden, wenn die Lehre strukturelle Faktoren nicht ausreichend thematisiert. Ein illustrativer Unterrichtsfall zeigt die Gefahr der Stereotypisierung und den Bedarf, „kulturelle Kompetenz“ als Teil eines umfassenderen strukturellen Ansatzes im Lehrplan zu behandeln (Riemenschneider, Voigt, Schübel & Bergmann,2018). Der folgende Fall stammt aus Abschlussberichten, in denen Studierende eines medizinischen Wahlfachs zur Versorgung von Menschen mit Fluchtgeschichte an der Technischen Universität Dresden das Erlebte nach dem Belegen des theoretischen und praktischen Teils reflektierten:

Das Fallbeispiel beschreibt eine Konsultationssituation mit einer Frau, die in Begleitung ihrer minderjährigen Tochter wegen starker, unregelmäßiger vaginaler Blutungen in die Praxis kam. Die Tochter übernahm bei diesem Praxisbesuch die Sprachmittlung. Die Interaktion wurde beschrieben als geprägt von Unsicherheit und Unbehagen aufseiten der Patientin: „Es schien der Frau sehr unangenehm zu sein, über ihre Hypermenorrhoe zu sprechen.“ Als Begründung für ihr Unbehagen wird ein Wissensdefizit unterstellt: „Sie schien noch nie gehört zu haben, dass Frauen nicht nur irgendwann unfruchtbar werden, sondern auch, dass die Menstruation zunächst immer seltener und unregelmäßiger wird und schließlich ganz ausbleibt.“ Dieses Erklärungsmodell mit einer (vermutet) geringen Gesundheitskompetenz der Patientin kann ein Ausdruck der kulturalisierenden Perspektive sein, aus der die Studierende die Situation begreift: Da die Patientin aus einem Land kommt, in dem Frauen einen erschwerten Zugang zu formaler Bildung haben, wird interpretiert, dass dies die konkrete Patientin auch betrifft und ihre Beschwerdedarstellung am ehesten als Ausdruck ihres mangelnden Kenntnisstands bezüglich grundlegender biologischer Prozesse zu verstehen ist.

Wenn alternative Erklärungen für die Situation nicht bedacht werden und sie nicht im Rahmen eines weiterführenden Unterrichts gezielt thematisiert werden, besteht das Risiko, dass mögliche weitere Handlungsoptionen übersehen werden. Eine ebenso plausible Erklärung für das Unbehagen der Patientin wäre beispielsweise, dass sie ihre gynäkologische Vorgeschichte in Anwesenheit ihrer Tochter erklären muss, was für viele Frauen, unabhängig von ihrem Bildungsstand und kulturellen Hintergrund, eine unangenehme Situation darstellt. Die kulturalisierende Erklärung kann dazu führen, dass die Patientin für die „schwierige“ Interaktion verantwortlich gemacht wird, auch wenn die Sicherstellung einer angemessenen Kommunikation in der Verantwortung des Gesundheitssystems liegt (Führer & Brzoska, 2020): Das Problem ist, dass es in Deutschland bisher keine systematische, evidenzbasierte Lösung – Bereitstellung professioneller Dolmetscherdienste – für den Umgang mit sprachdiskordanten Patientinnen und Patienten gibt.

Dieses Fallbeispiel illustriert, dass die Sensibilisierung für kulturelle Erklärungen im Umgang mit Gesundheit und Krankheit Studierende dazu verleiten kann, Kultur als dominanten Erklärungsansatz zu verwenden. Verschiedene Autorinnen und Autoren haben daher gefordert, „Kultur“ in der Erklärung von Problemen im Behandlungsprozess stets nur als „Ausschlussdiagnose“ zu verwenden und zuvor an eine „strukturelle Differenzialdiagnose“ (Seymour, Griffin, Holmes & Martinez,2018) zu denken, die systemische und andere Einflüsse einbezieht. Es ist eine weitere Ebene der Auseinandersetzung notwendig, um das individuelle Patientenverhalten und die Systemprobleme getrennt voneinander analysieren zu können und in ihren Wechselwirkungen zu verstehen. Dafür sind Längsschnittkurse zu Migration und Gesundheit erforderlich, die eine kritische Auseinandersetzung mit dem Lernprozess im Zeitverlauf ermöglichen und über kontraproduktive checklistenartige Vermittlung „kultureller Kompetenzen“ hinausgehen.

Die Initiative

Um diese Situation zu verbessern und eine menschenrechtsbasierte, diversitätssensible und Equity-orientierte Weiterentwicklung der Curricula voranzutreiben, hat sich das Lehrnetzwerk Migration und Gesundheit 2022 gegründet (Führer et al., 2023).

Das Lehrnetzwerk Migration und Gesundheit zielt darauf ab, 1) in der Lehre aktive Personen miteinander zu vernetzen und den Austausch sowie die gemeinsame Weiterentwicklung von Lehrmaterial zu fördern, 2) darauf aufbauend einen Modellkurs „Migration und Gesundheit“ zu entwickeln und 3) Strategien für die longitudinale Implementierung entsprechender Inhalte in Pflichtcurricula zu erarbeiten. Diese Bestrebungen werden von Lehrforschung flankiert.

Einladung zur aktiven Beteiligung

Das Netzwerk lädt alle Lehrenden im Bereich Migration und Gesundheit zur Mitarbeit ein, die sich an der kooperativen Weiterentwicklung der Lehre beteiligen möchten und die sich den oben genannten Werten verpflichtet fühlen. Die Aktivitäten des Lehrnetzwerks erfolgen in enger Zusammenarbeit mit dem Ausschuss Kulturelle Kompetenz und Global Health der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA) sowie der WHO Health and Migration Programme. Darüber hinaus sind auch weitere Arbeitsgruppen von Fachgesellschaften oder anderen Netzwerke zur Zusammenarbeit herzlich eingeladen. Sie erreichen uns unter: lehrnetzwerk(at)posteo.de

Literatur

Führer A. & Brzoska P. (2020). Die Relevanz des Dolmetschens im Gesundheitssystem, Gesundheitswesen, 84: 474–78.
Führer A., Taché S., Riemenschneider H., Bozorgmehr K., Diaz-Monsalve S., Knipper M., Mews C., Schwienhorst-Stich E.M., Siebert U., Strelow
K.U., & Ziegler S. (2023). Das Lehrnetzwerk Migration und Gesundheit: Aus- und Weiterbildung konsolidieren und weiterentwickeln, Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz, 66: 1130–34.
Kleinman A. & Benson P. (2006). Anthropology in the Clinic: The Problem of Cultural Competency and How to Fix It., PLOS Medicine, 3.
Metzl J.M., Hansen H. (2014). Structural competency: theorizing a new medical engagement with stigma and inequality, Soc Sci Med, 103: 126–33.
Napier D., Depledge M., Knipper M., Lovell, R., Ponarin E., Sanabria E., & Thomas F. (2017). Culture matters: using a cultural contexts of health approach to enhance policy-making. DOI:10.13140/RG.2.2.17532.74881
Riemenschneider H., Voigt K., Schübel J., & Bergmann A. (2018). Elective course "Refugee Care" in medical studies - interactive and interprofessional., Eur J Public Health., 28. (suppl_4):cky214.288.
Seymour CK., Griffin C., Holmes S., & Martinez C. (2018). Structural Differential - A 32-Year-Old Man with Persistent Wrist Pain, New England Journal of Medicine, 379: 2385–88.

Autorinnen und Autoren:

Stephanie Taché, Bereich Allgemeinmedizin Global Health Initiative, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden
Amand Führer, Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Profilzentrum Gesundheitswissenschaften, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Henna Riemenschneider, Bereich Allgemeinmedizin Global Health Initiative, Medizinische Fakultät Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden
Claudia Mews, Institut und Poliklinik für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Ute Siebert, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Projekt „Empowerment für Diversität – Allianz für Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung”
Sandra Ziegler, Sektion Health Equity Studies & Migration, Abteilung für Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung, Universitätsklinikum Heidelberg für das Lehrnetzwerk Migration und Gesundheit

Kontakt:

lehrnetzwerk(at)posteo.de


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