Tobias Stapf und Taissiya Sutormina

Bedarfe und Informationsverhalten von Geflüchteten zu Gesundheitsthemen

Erkenntnisse der „Digital Streetwork“ in den Sozialen Medien mit Geflüchteten und Neuzugewanderten

Schlagwort(e): Coronavirus, Forschung, Geflüchtete, Gesundheitsförderung, Kommunikation, Medien

Einführung

Nachdem 2015 die Bilder von Geflüchteten, die Smartphones zur Unterstützung auf dem Weg nach Europa nutzten, um die Welt gingen, ist inzwischen ausführlich dokumentiert worden, dass die meisten Geflüchteten auch in Deutschland digitale Medien sehr intensiv nutzen (siehe z. B. Emmer, Richter & Kunst 2016, Oprisor & Hammerschmid 2016, Gillespie et al. 2016). Viele dieser Untersuchungen machten ebenfalls deutlich, dass insbesondere die Sozialen Medien als zentrale Informationsquelle für die Orientierung und das Ankommen von Geflüchteten fungieren. Eine aktuelle Umfrage (Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung 2019) bestätigt die Fortsetzung dieses Trends, wie in Abbildung 1 ersichtlich ist. Auf die Frage „Wie hilfreich bewerten Sie folgende Informations- und Beratungsangebote?“, identifizierten die befragten Personen solche Angebote als besonders hilfreich, die entweder auf intensiven sozialen Kontakten beruhten (wie „Sprachschule“ und „Freunde und Verwandte“) oder auf digitalen Netzwerken (wie „Angebote in den Sozialen Medien“).

Auf der Grundlage der Erkenntnisse über die Bedeutung sozialer Medien hat das gemeinnützige Forschungsinstitut Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung gGmbH die Pilotprojekte Neu in Berlin Plus, Migrationsberatung 4.0, FEM.OS und Reach out and organise vs. Corona auf lokaler und bundesweiter Ebene initiiert. Diese Projekte erproben, wie der Ansatz der „Digital Streetwork“ in der Migrationsberatung umgesetzt werden kann – also aufsuchende Informations- und Beratungsangebote für Geflüchtete und Neuzugewanderte in den Sozialen Medien. Mithilfe professioneller Social-Media-Präsenzen und starken Beziehungen zu den Akteuren der digitalen Netzwerke von Neuzugewanderten und Geflüchteten beantworten die Projektteams derzeit monatlich ca. 1.000 Fragen von Ratsuchenden aus verschiedenen Herkunftsländern in ganz Deutschland und erreichen mit ihren Angeboten ein Vielfaches mehr an Personen. Gleichzeitig erfüllen die Projekte auch einen Forschungsauftrag, indem sie mithilfe der erhobenen Daten und Umfragen unter den Ratsuchenden das Informationsverhalten von Geflüchteten und anderen Neuzugewanderten in den Sozialen Medien analysieren. Auf diesem Weg können aktuelle Trends und Entwicklungen in den Informationsbedarfen und im Informationsverhalten von Geflüchteten praktisch live identifiziert werden. Ein besonderer Fokus liegt dabei aktuell auf der Erfassung von Informationsbedarfen von Geflüchteten zu coronabezogenen und Gesundheitsfragen.

Abbildung 1: Bewertung der Nützlichkeit verschiedener Informationsangebote durch Neuzugewanderte in Deutschland nach Herkunft aus EU-Staaten (ohne Deutschland), nicht-europäischen Asylherkunftsländern und sonstigen Drittstaaten. Durchschnittliche Bewertungen von 1 bis 3 (rot, überhaupt nicht bis nicht hilfreich) und von 3,1 bis 6 (grün, hilfreich bis sehr hilfreich). Eigene Daten (2019) und Darstellung © Minor

 

Das Informationsverhalten von Geflüchteten in den Sozialen Medien

Für die praktische Umsetzung von Informationskampagnen ist es wichtig, die Frage zu beantworten, welche der vielen Plattformen in den Sozialen Medien für die Informationssuche und den Austausch unter Geflüchteten am relevantesten ist. Die Antworten aus unseren Umfragen und auch die praktische Erfahrung aus den Projekten zeigen immer wieder, dass Facebook, insbesondere in der Form von Facebook-Gruppen, unter Geflüchteten weiterhin die am intensivsten genutzte Plattform zu Beratungsthemen in den Sozialen Medien zu sein scheint. Aktuelle Zahlen über die Entwicklung der Nutzungsraten verschiedener Communities auf Facebook (Facebook 2019) zeigen, dass die Zahlen von Nutzenden auf der Plattform insbesondere in den sprachlichen Communities von Geflüchteten und Neuzugewanderten im Zuge der Coronakrise noch weiter gestiegen sind.

Nun hat sich hingegen insbesondere Facebook anhand verschiedener Skandale und Kontroversen in den letzten Jahren alles andere als einen guten Ruf als verlässliche Informationsquelle erworben. Eine inhaltliche Analyse von einer großen Anzahl von Beiträgen und Fragen in migrantischen Foren auf Facebook erlaubt es uns allerdings zu zeigen, dass, trotz dieser kontroversen Diskussionen, ein erheblicher Teil der Beiträge in den Foren von Geflüchteten und Neuzugewanderten (Aufgrund fehlender Informationen über die Staatsangehörigkeit oder den Aufenthaltsstatus der Facebook-Nutzenden dient die Sprache als stellvertretender Indikator für die Netzwerke von Personen aus bestimmten Herkunftsländern bzw. Herkunftsregionen auf der Plattform.) auf Facebook sich durchaus mit Fragestellungen zu klassischen Themen der Sozial- und Rechtsberatung beschäftigt

Abbildung 2: Relative Häufigkeit von Beiträgen zu beratungsrelevanten Themen in Foren der Sozialen Medien von arabisch-, englisch- und französischsprachigen (Neu-)Zugewanderten, Erhebungszeitraum: Oktober 2016 bis Dezember 2018. Eigene Darstellung nach Facebook 2018 © Minor

 

Abbildung 2 zeigt den Anteil der erfassten Beiträge und die Unterschiede in der Themenverteilung für arabisch-, englisch- und französischsprachige Netzwerke. Dabei fallen insbesondere die Unterschiede im Themenfokus zwischen den verschiedenen Sprachen auf: In den arabischsprachigen Netzwerken, in denen auch viele Geflüchtete Mitglied sind, wird hauptsächlich zu sozialrechtlichen Fragen, aber auch zu Bildung und Aufenthaltsrecht diskutiert. In den französisch- und englischsprachigen Netzwerken hingegen, die hier hauptsächlich zum Vergleich dienen, da der Anteil von geflüchteten Personen in diesen Netzwerken wesentlich geringer sein dürfte, werden überwiegend mietrechtliche Fragen diskutiert. Während gesundheitliche Fragen in den englisch- und französischsprachigen Netzwerken einen durchaus großen Anteil der Fragen darstellen (mit 11,2 % und 6,7 %), kommen sie unter den arabischsprachigen Beiträgen (0,6 %) kaum vor.

Um noch besser zu verstehen, zu welchen Gesundheitsthemen sich Geflüchtete und Neuzugewanderte (Da eine Zuordnung der Ratsuchenden nach Aufenthaltsstatus nicht möglich ist, wie bei den vorherigen Analysen, ist auch hier zu beachten, dass wir die erfassten Fragen nur nach Sprachen sortieren können. Diese Zahlen beziehen sich daher auf die Zielgruppen von Geflüchteten UND Neuzugewanderten.) in den Sozialen Medien austauschen, haben wir für diesen Beitrag eine spezielle Analyse der Verteilung von Gesundheitsthemen nach Sprachen (Für diese Analyse haben wir die Fragen in folgenden Sprachen analysiert: Arabisch, Englisch, Französisch, Persisch, Portugiesisch, Russisch, Serbisch, Spanisch und Türkisch. Diese Auswahl enthält zum einen die durch die Projekte abgedeckten Weltsprachen und zum anderen die Sprachen der häufigsten Herkunftsländer von Asylsuchenden in Deutschland.) erstellt, zu denen wir in unseren Projekten Fragen erfasst haben.

Abbildung 3 – Die fünf häufigsten Unterthemen von Fragen im Themenbereich Gesundheit in Social-Media-Foren von Geflüchteten und Neuzugewanderten, erfasst durch die Projekte Neu in Berlin Plus, MB 4.0 und FEM.OS, Erfassungszeitraum 2018–2021. © Minor

 

Abbildung 3 zeigt zunächst die thematische Breite der Fragen, die im Themenbereich „Gesundheit“ in diesen digitalen Communities diskutiert werden. Dabei fällt auf, dass vor allem Fragen über die Orientierung im (Suche nach Arztpraxen und Krankenhäusern) oder den Zugang zum Gesundheitssystem bzw. zu bestimmten Gesundheitsleistungen (Fragen zur Krankenversicherung) gestellt werden. Bei der Suche nach Arztpraxen werden häufig Fragen zu medizinischen Spezialistinnen und Spezialisten oder Ärztinnen und Ärzten mit bestimmten Sprachkenntnissen gestellt. Fragen zu Krankenversicherungen beziehen sich oft auf die Auswahl einer Krankenkasse oder die bürokratischen Prozesse bei der Beantragung bestimmter Leistungen.

Abbildung 4 gibt einen Überblick über die Verteilung der erfassten Gesundheitsfragen als Anteil an allen erfassten Fragen für die jeweilige Sprache. Auch wenn aufgrund der Erfassungsmethodik hier keine repräsentative Erhebung vorliegt, deutet diese Grafik doch daraufhin hin, dass Gesundheitsfragen in den englisch-, französisch- und türkischsprachigen Social-Media-Communities wesentlich häufiger gestellt und diskutiert werden als in anderen Communities.

Abbildung 4 – Verteilung der Fragen zum Themenbereich Gesundheit in Social-Media-Foren von Geflüchteten und Neuzugewanderten als Anteil an allen erfassten Fragen pro Sprache, erfasst durch die Projekte Neu in Berlin Plus, MB 4.0 und FEM.OS, Erfassungszeitraum 2018–2021. © Minor

 

Interessanterweise ergibt die Analyse der Fragen mit Coronabezug aus den Social-Media-Foren ein gänzlich anderes Bild. So zeigt Abbildung 5 die Fragen mit Coronabezug als Anteil an allen ausgewerteten Fragen in der jeweiligen Sprache. Coronabezogene Fragen werden demzufolge scheinbar am häufigsten in den englisch-, serbisch- und türkischsprachigen Social-Media-Netzwerken diskutiert. In den französischsprachigen Netzwerken wiederum tauchen sie weniger häufig auf als Fragen zu allgemeinen Gesundheitsthemen.

Abbildung 5 – Verteilung der Fragen mit Coronabezug in Social-Media-Foren von Geflüchteten und Neuzugewanderten als Anteil an allen erfassten Fragen pro Sprache, erfasst durch die Projekte Neu in Berlin Plus, MB 4.0 und FEM.OS, Erfassungszeitraum 2018–2021. © Minor

 

Abbildung 6 – Themenverteilung der Fragen mit Coronabezug in Social-Media-Foren von Geflüchteten und Neuzugewanderten als Anteil an allen erfassten Fragen mit Coronabezug für die Sprachen (n = 1.136), erfasst durch die Projekte Neu in Berlin Plus, MB 4.0 und FEM.OS, Erfassungszeitraum 2018–2021. © Minor

 

Die thematische Auswertung der Fragen mit Coronabezug aus diesen Social-Media-Netzwerken in Abbildung 6 zeigt, dass es vor allem aufenthaltsrechtliche und arbeitsrechtliche Fragen sind, mit denen sich die Ratsuchenden während der Coronapandemie auseinandersetzen. An der folgenden, übersetzten Beispielfrage aus unserer Beratungsarbeit kann die Verflechtung der aufenthaltsrechtlichen und gesundheitlichen Themen, während der Coronapandemie verbildlicht werden:


Gesundheitsthemen mit primären Coronabezug werden zwar auch diskutiert, aber wesentlich seltener. Dies könnte zum einen daran liegen, dass für die Mehrheit der Geflüchteten und Neuzugewanderten in Deutschland Fragen über die kollateralen Auswirkungen der Coronapandemie wie z. B. die zeitweilige Aussetzung von Familienzusammenführungen oder der Umgang mit Kurzarbeitergeld und Kündigung aufgrund der wirtschaftlichen Krise dringlicher erscheinen als die gesundheitlichen Aspekte der Virusbekämpfung. Dazu auch ein Beispiel aus der aufsuchenden Beratungsarbeit:


Als weiterer möglicher Einflussfaktor ist es vorstellbar, dass Gesundheitsthemen und insbesondere Gesundheitsfragen mit Coronabezug insgesamt weniger häufig in den halböffentlichen Social-Media-Foren diskutiert werden, weil sie im Vergleich zu anderen Themen als privat, sensibel oder polarisierend wahrgenommen werden.

Die „Digital Streetwork“-Erfahrungen und -Ergebnisse der Datenanalysen aus unseren Projekten zeigen, wie wichtig es für effektive Informationsstrategien zur Erreichung von Geflüchteten ist, sich nach dem tatsächlichen Informationsverhalten der Zielgruppe auszurichten und die Themen aufzugreifen, welche für die Mitglieder der entsprechenden Netzwerke derzeit relevant sind. Ein wichtiger Teil dieses Ansatzes ist auch, in einen Dialog mit den Akteuren und Mitgliedern der Social-Media-Netzwerke zu treten und auf diese Weise langfristige Beziehungen und gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Ein solcher Dialog kann Einblicke in die Perspektive von Geflüchteten auf die Informationsangebote öffentlicher Institutionen in Deutschland geben. Gleichzeitig können solche Austausche und damit einhergehende Kooperationen Möglichkeiten aufzeigen, wie das Vertrauen von Geflüchteten auch in die Präsenzen öffentlicher Institutionen in den Sozialen Medien gestärkt werden kann, was gerade während der Coronapandemie eine unschätzbar wertvolle Ressource ist.

Literaturverzeichnis

  • Emmer, Martin, Carola Richter, und Marlene Kunst. Flucht 2.0 - Mediennutzung durch Flüchtlinge vor, während und nach der Flucht. Berlin: Freie Universität Berlin, 2016.
  • Facebook. Facebook Zielgruppen Insights. Dublin, 12.12.2019.
  • Gillespie, M., et al. Mapping Refugee Media Journeys. Milton Keynes: The Open University/France Médias Monde, 2016.
  • Minor - Projektkontor für Bildung und Forschung. Neuzugewandertenbefragung 2019, Online-Umfrage. Berlin: Minor - Projektkontor für Bildung und Forschung, 2019.
  • Oprisor, Anca, und Gerhard Hammerschmid. Refugees in Berlin 2015/16 - Perceptions of basic public service delivery. Berlin: Hertie School of Governance, 2016.


Tobias Stapf und Taissiya Sutormina sind Wissenschaftliche Mitarbeitende in den Projekten „Neu in Berlin Plus“ und „FEM.OS“ und arbeiten im Bereich der Informations- und Beratungsarbeit sowie der Datenanalyse.

Kontakt:

Tobias Stapf
Taissiya Sutormina


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