Mathilde Gaudion, Martha Engelhardt, Theda Borde

Ambivalenzen, Erfahrungen und Perspektiven geflüchteter Frauen im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft in Deutschland

Schlagwort(e): Beratung, Familienplanung, Frauen, Geburt, Schwangerschaft

„Du musst stark sein. Eine Mutter zu sein in Deutschland, also nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, dafür musst du stark sein.“

(Mutter aus Senegal, eigene Wohnung, Berlin)

In der Versorgung rund um Schwangerschaft und Geburt und als Mütter sind Frauen mit Fluchtgeschichte, aber auch das Gesundheitspersonal vielfach mit Herausforderungen konfrontiert, die neben Sprachbarrieren auch unterschiedliche Erwartungen und Konzepte umfassen (Henry, J., Beruf, C., & Fischer, T. 2020; Kasper, A. 2021; Engelhardt, M., Gaudion, M., Kamhiye, J., Al Munjid, R., & Borde, T. 2022). Über die Bedeutung der Mutterschaft für geflüchtete Frauen, ihre Ambivalenzen, Geburtserlebnisse und Erfahrungen als Mutter in Deutschland ist bisher nur wenig bekannt.

Im Rahmen der PROREF-Studie (Teilprojekt der DFG-geförderten Forschungsgruppe PH-LENS) wurden in der Zeit von Mai 2020 bis Juni 2021 (während der Covid-19-Pandemie) in Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen u. a. 33 geflüchtete Mütter ein bis neun Monate nach der Geburt eines Kindes (in diversen Sprachen) anhand qualitativer Interviews befragt. Die Mütter kamen aus 19 verschiedenen Herkunftsländern, lebten im Durchschnitt seit drei Jahren in Deutschland in Gemeinschaftsunterkünften oder in eigenen Wohnungen und wiesen unterschiedliche Bildungsgrade auf. Die Interviews wurden anhand der Framework-Analyse ausgewertet. Die hier vorgestellten Ergebnisse der qualitativen Analyse konzentrieren sich auf das Thema Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft. Sie bieten Einblicke in Lebensrealitäten geflüchteter Mütter in Deutschland und ermöglichen kontextuelle Faktoren, die das Mutter-Sein in Deutschland prägen und die Wahrnehmung von Mutterschaft und ihre Bedeutung formen, zu verstehen.

„Mit einem Kind sein ist schwer, aber ich weiß, dass es schön wird.“
(Mutter aus Eritrea, Gemeinschaftsunterkunft Brandenburg)

Schwangerschaftsambivalenzen und Perspektiven

Das Leben mit dem Neugeborenen in einem unbekannten Land wurde überwiegend als schwierig beschrieben. Viele der befragten Mütter fokussierten sich jedoch im Alltag darauf, ein „gutes Leben“ für sich selbst und ihre Kinder zu führen und zogen daraus Mut, Stärke und Motivation für ihr Leben in Deutschland.

„Das Wichtigste an meinem Leben hier in Deutschland sind meine Kinder. Ich bin schon angekommen, ich bin hier, also muss ich mich anstrengen / ich will nicht mein ganzes Leben vom Amt leben, sehen Sie, ich habe Verantwortung, ich bin eine Mutter (...).“
(
Alleinerziehende Mutter aus Kamerun, Gemeinschaftsunterkunft in Brandenburg)

Obwohl ein Teil der Interviewpartnerinnen betont, dass ihre Schwangerschaft nicht gewollt oder geplant war, wird die Mutterschaft zum Befragungszeitpunkt, also nach der Geburt des Kinds, größtenteils als positiv wahrgenommen. Faktoren, die dazu führten, dass die Schwangerschaft als belastend empfunden wurde, waren frühere negative Erfahrungen wie zum Beispiel Fehlgeburten und die Angst, noch einmal eine solche zu erleben. Auch Mütter, die bereits mehrere Kinder hatten, empfanden die erneute Schwangerschaft mitunter als zusätzliche Belastung. Einige Frauen wünschten sich im Gespräch „nicht noch ein weiteres Kind“. Über die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland waren viele der Interviewpartnerinnen informiert. Frauen, die von einer Schwangerschaftsambivalenz berichteten, hatten sich jedoch für die Weiterführung der Schwangerschaft entschieden und begründeten es vor allem damit, dass Kinder als „von Gott gewollt“ und damit als etwas Positives gesehen werden. Viele der Interviewpartnerinnen setzen sich nach Geburt des Kinds verstärkt mit Möglichkeiten der Verhütung auseinander. Wichtigste Ansprechpartner waren dabei meist Ärztinnen, Beratungsstellen oder auch Hebammen. Selten wurde das Thema mit dem Partner besprochen. Auch fehlten einem Teil der befragten Frauen Kenntnisse über Verhütungsmöglichkeiten.

Aufgrund schwieriger kontextueller Faktoren erlebten die Frauen ihre Schwangerschaft und das Leben mit dem Neugeborenen oft als problematisch. So berichteten Mütter, die einen unsicheren Aufenthaltsstatus hatten, von zusätzlichem Druck für die gesamte Familie.

So many pregnant women here, they have this problem of stress. Too much stress, because it is not easy to be in a country for years and you don't have papers. You know every time you are thinking as if they will come and deport you.“
(Mutter aus Kamerun, Gemeinschaftsunterkunft in Brandenburg)

Die schwierige finanzielle Lage und die suboptimale Wohnsituation für Mütter und Familien in Gemeinschaftsunterkünften verstärkten diesen Stress noch weiter und führten bei einer Interviewpartnerin dazu, dass sie es bereute, ihr Kind ausgetragen zu haben. „Mama’s darling… I wish I hadn’t brought this one along. (Mutter aus Afghanistan, Gemeinschaftsunterkunft Brandenburg)

Andere Mütter berichteten von gesundheitlichen Problemen wie Diabetes, Asthma, Depressionen, Ängste oder Panikattacken, die aus ihrer Sicht durch Stress während der Schwangerschaft ausgelöst oder verstärkt wurden.

Geburtserlebnisse

Viele Frauen berichteten im Interview von negativen bis hin zu traumatisierenden Geburtserlebnissen, vor allem aufgrund von Sprachbarrieren, von fehlenden Informationen und fehlendem Wissen über das deutsche Gesundheitssystem und fehlenden eigenen Kenntnisse über den Geburtsvorgang. So erhielten Mütter während der Geburt bei Sprachbarrieren keine detaillierte Aufklärung über medizinische Eingriffe oder Schmerzmittel.

Einverständniserklärungen wurden unterschrieben, ohne die genauen Inhalte zu verstehen. Meist gebaren die befragten Frauen ihre Kinder ohne eine unterstützende Begleitperson, da mehrere Personen im Kreißsaal unter Covid-19-Bedingungen selten erlaubt waren. Sprachbarrieren konnten so weder durch mehr oder weniger gut übersetzende Begleitpersonen kompensiert noch durch qualifizierte Sprachmittlung überwunden werden. Bei dringenden Fragen wurde zum Teil auf Übersetzungsapps zurückgegriffen. Frauen berichteten, dass sie bei ungelösten Sprachbarrieren keine Fragen stellen konnten, keine Wahl hatten, sich ausgeliefert und diskriminiert fühlten. Bei gelingender sprachlicher und auch nonverbaler Kommunikation fiel die Bewertung der Versorgung deutlich besser aus. In der qualitativen Studie konnten Hinweise auf gravierende Fehlinformationen, Aufklärungs- und Versorgungsdefizite vor, während und nach der Geburt und deutliche Lücken bei der Kontinuität der Versorgung identifiziert werden.

Einige Frauen berichteten, dass die zweite Geburt in Deutschland einfacher gewesen sei als die erste, da sie schon alles kennen und in vielen Fällen auch die deutsche Sprache schon besser beherrschen würden. Auch gaben bereits vorhandene Erfahrungen von Geburten (im Herkunftsland) mehr Sicherheit bei der ersten Geburt in Deutschland.

Mutterschaft

Auch beim Erleben der Mutterschaft werden Ambivalenzen erkennbar. So wird sie von den befragten Frauen gleichzeitig als Mittel gegen und als Auslöser von Einsamkeit erlebt. Durch das Fehlen der erweiterten Familie in Deutschland und die Reduzierung der sozialen Unterstützung auf die Kernfamilie konzentrieren sich die Interviewpartnerinnen verstärkt auf ihre Kinder. Einerseits stellen die Kinder einen Anker und eine Motivation für das neue Leben in Deutschland dar und werden von vielen der Interviewpartnerinnen als Lebenssinn beschrieben. Andererseits ist zu beobachten, dass die geflüchteten Frauen aufgrund fehlender Kinderbetreuung und prekärer Lebensverhältnisse durch die Mutterschaft in eine traditionelle Frauen- und Mutterrolle gedrängt werden, ohne es zu wollen. So haben sie weniger Zeit Deutsch zu lernen und sich auf ihre eigene (berufliche) Zukunft in Deutschland zu konzentrieren als ihre Partner. Erschwerend kommen bürokratische Hürden, wie z. B. bei der Beantragung von Geburtsurkunden für die in Deutschland geborenen Kinder, hinzu, die den Zugang zu Kitaplätzen und Geldern verhindern oder nahezu unmöglich werden lassen. Nur wenige der Interviewpartnerinnen sprachen zum Befragungszeitraum die deutsche Sprache und kaum eine von ihnen war berufstätig. Durch die kontextuellen Faktoren werden Entwicklungspotenziale der Mütter erschwert und stereotype Bilder der unterdrückten, ungebildeten, kinderreichen Frau reproduziert, die zu weiterer Diskriminierung führen.

 

Literatur:

Engelhardt, M., Gaudion, M., Kamhiye, J., Al Munjid, R., & Borde, T. (2022). Legalisiertes Othering bei der (Nicht-)Ausstellung von Geburtsurkunden geflüchteter Kinder. Migration und Soziale Arbeit (4), 315–325.

Henry, J., Beruf, C., & Fischer, T. (2020). Access to Health Care for Pregnant Arabic-Speaking Refugee Women and Mothers in Germany. Qualitative Health Research, 30(3), 437–447.

Kasper, A. (2021). Die geburtshilfliche Betreuung von Frauen mit Fluchterfahrung. Springer-Verlag.

 

Autorinnen:
Die Autorinnen sind/waren alle an der Alice Salomon Hochschule Berlin im PROREF-Forschungsprojekt tätig: „Analyse kontextueller Faktoren und Faktoren des Gesundheitssystems auf die Versorgung geflüchteter Frauen in Schwangerschaft und Geburt“

Mathilde Gaudion, BA Soziale Arbeit, studentische Mitarbeiterin im PROREF-Forschungsprojekt, Martha Engelhardt, M.Sc. Psychologie, Doktorandin im PROREF-Forschungsprojekt, Prof. Dr. Theda Borde, Projektleitung PROREF-Forschungsprojekt

Kontakt:
borde(at)ash-berlin.eu


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